Ruf Der Tiefe
runtertauchen würde in die Tiefsee, würden alle Hohlräume im Körper, die mit Luft gefüllt sind, vom Druck zerquetscht.«
»Ah, so langsam hab ich’s. Ihr atmet Flüssigkeit, also kann eure Lunge nicht zusammengedrückt werden. Aber hat man im Körper nicht noch andere gefährliche Hohlräume?«
»Doch. Stirn- und Nasenhöhle und so was. Die werden so wie die Lunge mit Perfluorcarbon geflutet, wenn wir tauchen. Tja, dann gibt es noch das Ohr jenseits des Trommelfells. Bei normalen Menschen ist da auch Luft drin.«
»Was meinst du damit, bei normalen Menschen ?«
»Als wir im Meeres-Internat für die Tiefsee ausgewählt worden sind, mussten wir operiert werden. Julian, Tom, Leon und ich.« Ein verlegenes Lachen. »Wir sind sozusagen an unsere Umgebung angepasst worden.«
Carimas Blick wanderte zu Billies Armbeuge. Ihr war schon aufgefallen, dass allen Flüssigkeitstauchern eine Venenkanüle gelegt worden war, diese Dinger kannte sie aus ihrer Zeit im Krankenhaus ziemlich gut. Carima hatte nicht gewagt zu fragen, wozu die gut waren. Und jetzt das. Zurechtoperiert. Gruselig! Sie hatte davon gelesen, dass immer mehr Leute sich freiwillig irgendwelche Implantate einpflanzen ließen, mit denen ihre Körper noch besser funktionierten, aber getroffen hatte sie so jemanden noch nie.
»Aber wir können immer noch hoch, das siehst du ja an mir«, fuhr Billie fort. »Es ist nicht so, dass wir gezwungen wären, unten zu bleiben.«
Ein langes Schweigen, in dem nur das leise »Tschirp«-Geräusch des Sonars und Patricks Funkgespräche mit der Oberfläche die Stille durchdrangen. Carima kratzte sich am Ohr und stellte fest, dass sie einen ihrer Ohrringe verloren hatte. Vielleicht lag er hier irgendwo im Tauchboot. Carima tastete herum, fand nichts. Oder hatte sie ihn in der Station verloren? Mist!
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie fast erschrak, als Billie auf einmal sagte: »Darf ich dich was fragen, Carima?«
»Äh, ja klar, was denn?« Carima wurde nervös. Hatte Billie etwa gemerkt, dass sie und Leon zusammen im Lager gewesen waren? Dass sie danach vertrauter miteinander umgingen als vorher? Oh Mann, womöglich dachte sie, dass zwischen ihnen irgendwas gelaufen war.
Billie blickte sie nachdenklich an. »Kommt es dir nicht manchmal seltsam vor, immer Luft zu atmen? So ein entsetzlich dünnes Zeug?«
Carima war zu verblüfft gewesen, um sofort zu antworten, und dann hatte Patrick ihnen mal wieder ein unglaublich eigenartig aussehendes Tier gezeigt, das gerade am Tauchboot vorbeischwamm. Sie und Billie waren nicht mehr dazu gekommen, sich weiter zu unterhalten.
Und jetzt lag sie hier, in diesem Hotelzimmer … und musste wieder an Leon denken. An seine Ruhe und Konzentration dort auf der Brücke, kurz vor dem Beben. Schön war sein Gesicht in diesem Moment gewesen. Und der Moment, als sie ihn bei der Abfahrt der Marlin im Wasser bemerkt hatte. Noch nie hatte sie jemanden so schwimmen sehen, mit solch müheloser Kraft und Eleganz.
Ganz und gar in seinem Element.
Ihre Mutter blickte auf sie herab und lächelte plötzlich. »He, woran denkst du? Du hattest gerade einen ganz abwesenden Blick.« Aber sie wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern fragte gleich weiter: »Hast du gar keinen Hunger? Ich wette, die haben beim Frühstücksbüfett mindestens drei Sorten frischen Joghurt.«
»Kann es sein, dass du wirklich immer nur ans Essen denkst?«, murmelte Carima und schlurfte ins Bad, um zu duschen.
Leon konzentrierte sich darauf, was in der Kabine besprochen wurde, und vergaß die Welt um sich herum, während er lauschte.
»… gerade Neuigkeiten von Benthos I bekommen, aus der Karibik. Casey Davidson, einer der jungen OxySkin-Taucher, hat jetzt endgültig aufgegeben.«
»Verdammt. Was war der Grund, sind die Abwehrreflexe seines Körpers noch stärker geworden? Was sagt der Stationsarzt?«
»Körperlich ist Casey völlig gesund. Er hat nur einfach die Fähigkeit verloren, Flüssigkeit zu atmen. Und das nach mehr als tausend Stunden unter Wasser.«
Jetzt sprach wieder Ellard. »Das ist bitter. Wie alt ist Casey jetzt?«
»Siebzehn. Er hat relativ spät angefangen, mit vierzehn.«
»Das klingt nicht gut.« Die Besorgnis in Ellards Stimme war deutlich zu hören. »Wie sieht’s mit den anderen Stationen aus? Gab es nicht auf Benthos III einen ähnlichen Fall? Wie hat sich die Sache dort entwickelt?«
»Schlecht. Rogers musste Laura – sie ist achtzehn – inzwischen aus dem Programm nehmen, und
Weitere Kostenlose Bücher