Ruf Der Tiefe
gerade draußen, oder?«
Leon nickte, setzte sich und lehnte sich apathisch gegen eine Wand. Er brachte es nicht über sich, die anderen nach dem Film zu fragen, den sie sich angeschaut hatten, er konnte an nichts anderes denken als an das, was er gerade erfahren hatte. Er hat nur einfach die Fähigkeit verloren, Flüssigkeit zu atmen.
»Und, irgendwas Interessantes gesehen?« Tom fragte beiläufig, doch Leon wäre beinahe zusammengezuckt. Gesehen nicht, aber gehört. Vielleicht würde ihnen Ellard ja noch offiziell mitteilen, was in den anderen Stationen geschehen war. Womöglich hatte er nur damit gewartet, bis es bessere Daten, mehr Informationen gab. Aber was war, wenn ihr Ausbilder die Sache weiterhin geheim hielt? Sollte er selbst den anderen sagen, was Kovaleinen und Ellard ihnen verheimlichten?
»Ich glaube, unser Octoboy hat gar nichts gesehen, sondern nur mit seinem Weichtier gespielt«, stichelte Julian, und Leon verging die Lust, in naher Zukunft mit ihm irgendwelche Geheimnisse zu teilen.
Er ignorierte Julian, stand auf und ging seine Mails checken. Wenn sein Freund in einer solchen Stimmung war, konnte er ein echter Mistkerl sein, und dann brachte es gar nichts, mit ihm zu streiten.
Im COM-Raum war es dunkel und ruhig. Leon wählte einen Computer aus und bekam schnell eine Verbindung – zum Glück hatte das Seebeben das Glasfaserkabel zur Oberfläche nicht beschädigt. Drei neue Nachrichten: die erste von Billie mit Neuigkeiten von Shola und einer neuen Geocaching-Geschichte, die zweite von Tim, in der er ankündigte, dass die Thetys am nächsten Vormittag in Hawaii eintreffen würde, und die dritte von … tja. Es war eine Mail inklusive Anhang von einer LadyShimounah, in der Betreffzeile stand einfach »Hi!«. Garantiert Spam, mit schönen Grüßen von irgendeinem russischen Virenprogrammierer. Weg mit dem Dreck.
Erst in dem Sekundenbruchteil, als die Mail im elektronischen Mülleimer verschwand, fiel ihm auf, dass der Anhang aus zwei Bildern mit den Bezeichnungen tief_unter_wasser1 und waikiki_beach bestand. Moment mal! War die Nachricht etwa doch für ihn gewesen? Und wie holte er das Ding jetzt zurück? Oder war es endgültig weg? Shit!
Es dauerte eine Weile, bis er Tom – der nebenbei auch das Computer-Genie von Benthos II war – überredet hatte, ihm zu helfen. »Das kostet dich aber den nächsten Nachtisch«, kündigte Tom gleich an.
»Meinetwegen«, brummte Leon.
»Und vielleicht könntest du auch noch meine Meeresbiologie-Hausaufgaben …?«
»Hey, das erfüllt so langsam den Tatbestand der Erpressung. Hilfst du mir jetzt oder nicht?«
Tom schaffte es tatsächlich, die Mail zurückzuholen, doch dann klickte der kleine Mistkerl blitzschnell darauf, um sie zu öffnen.
»He! Das ist meine Post, verdammt noch mal!« Leon schob Tom vom Hocker. Doch es war schon zu spät. Sie hatten beide gesehen, dass die Nachricht von Carima stammte. Tom machte sich grinsend aus dem Staub, wahrscheinlich um die Neuigkeiten brühwarm an Julian weiterzutratschen.
Doch als Leon las, was Carima geschrieben hatte, vergaß er seinen Ärger.
Hi Leon,
wir sind gut wieder oben angekommen und jetzt sitze ich in einem Hotel an der Kona-Küste von Big Island und denke an euch. Ich wollte dir nur noch einmal sagen, wie spannend ich es bei euch fand. Was ihr macht, ist außergewöhnlich, und ich weiß gar nicht, warum ich darüber noch keine große Reportage in der Time oder so gelesen habe???
Wie geht es dir und Lucy? Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mir zurückschreibst!
So, und jetzt gehe ich ein paar Vulkane anschauen …
Carima
PS: Ach ja, falls du mal an Land bist, dann meld dich doch einfach. Meine Handy-Nr. ist 0049-177-8769372.
Der Anhang waren zwei 3-D-Fotos, eins von ihm und Lucy vor dem großen Fenster der Hauptschleuse, das andere von Carima am Waikiki Beach in Honolulu. Ihre Haare glänzten im Licht, als seien sie aus Sonnenstrahlen geflochten. Leon ahnte, warum sie ihm gerade dieses Bild geschickt hatte und nicht ein anderes. Auf diesem hier hatte sie nicht das strahlende Lächeln aufgesetzt, mit dem sie die Leute so gerne blendete und auf Abstand hielt. Stattdessen blickte sie nachdenklich übers Meer hinaus. Vielleicht hatte sie gar nicht gemerkt, dass sie fotografiert worden war.
Leon atmete tief durch. Wenigstens ein kleiner Lichtblick an diesem ansonsten scheußlichen Tag. Das »denke an Euch« am Anfang klang vorsichtig, doch sie fragte nicht etwa nach Julian und den anderen,
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