Ruf Der Tiefe
Enttäuscht vernahm er, dass Ellard und der Kommandant schon wieder das Thema gewechselt hatten.
Doch als er lauschte, was die beiden besprachen, verflog seine Enttäuschung – stattdessen fühlte es sich an, als habe der Stachel eines Rochens ihn mitten ins Herz getroffen.
Ein Versorgungsschiff hatte Carima und ihre Mutter auf der Insel Maui abgesetzt, und dann, nach einem kurzen Wir-leben-noch-Anruf bei Carimas Vater und der neuen Familie ihrer Mutter, waren sie weitergeflogen nach Big Island, auf die größte der Hawaii-Inseln, wo sie schließlich völlig erschöpft in ihrem Hotel eingetroffen waren.
Jetzt, am nächsten Morgen, kam ihr alles sehr unwirklich vor. Das Hotelzimmer war luftig-hell und bequem, die Betten erschienen Carima nach der Enge ihrer unterseeischen Kabine so groß wie ein Fußballfeld. An der Wand hingen Monitore, die einem gerahmten Bild täuschend ähnlich sahen; ihre Mutter hatte darauf widerlich geschmackvolle Blumenaquarelle eingestellt. Sonnenstrahlen zeichneten eine leuchtende Spur darüber. Die Vorhänge neben der offenen Balkontür bauschten sich im Wind. In Benthos II war es trotz der Klimaanlage immer irgendwie feucht und kühl gewesen, wie hielten die Leute dort es nur aus, niemals die Sonne zu sehen, niemals den Wind zu spüren? Ja, es war gut, zurück zu sein an der Oberfläche! Und doch … etwas fehlte. Es fühlte sich an, als sei ein Teil von ihr unten geblieben in der Station.
»Wir sind der Unterwelt entkommen«, scherzte ihre Mutter, die gerade dabei war, umständlich ihre teuren Cremes, Peelings und Dusch-Essenzen im Bad aufzubauen. Die mussten immer »Bio« sein, was eigentlich ein Witz war, weil ihre Mutter ansonsten fröhlich alles ignorierte, was mit dem Thema Umwelt zu tun hatte. »Jetzt können wir wieder zur Erholung übergehen.«
Carima wälzte sich im Bett herum und zog die Decke zum Kinn hoch. »Ja. Bestimmt sind die Strände inzwischen nicht mehr gesperrt. Wir könnten sogar mal schnorcheln gehen, wir dürfen uns nur nicht an den toten Fischen stören.«
»Wir finden schon noch einen Strand, der offen ist.« Die Stimme ihrer Mutter klang gepresst. »Außerdem habe ich nach diesem Seebeben gerade ein bisschen die Nase voll vom Meer. Big Island hat noch eine Menge anderer Sachen zu bieten. Anscheinend ist der Kilauea gerade aktiv, man kann ganz nah heranfahren und zusehen, wie die Lava aus dem Krater fließt.«
Carima gab auf. »Gute Idee«, sagte sie. Im Moment hatte sie nicht die Kraft, um sich mit ihrer Mutter anzulegen. Dazu war ihr Kopf noch zu voll mit Bildern – Leon in seiner OxySkin, mit Augen wie ein Wesen der Tiefsee; seine Krake, am Fenster in der großen Schleuse haftend, die Saugnäpfe groß wie der Boden eines Trinkglases; das blaugrüne Notlicht der Brücke kurz nach dem Beben. Und in ihren Ohren hatten sich Echos gefangen und wollten einfach nicht weichen.
Geflüsterte Gespräche mit Billie auf dem Weg nach oben. »Wieso könnt ihr überhaupt mit einer OxySkin nach draußen, die ist doch hauchdünn, was ist mit dem Druck? Alle anderen Taucher brauchen in dieser Tiefe Panzertauchanzüge.«
»Den Panzer braucht man nur, wenn man den Druck der Oberfläche mitnehmen will und die gewohnte Luft. Wenn man so wie wir ganz eintaucht ins Meer, dann macht einem das Gewicht des Ozeans nichts aus. Das Geheimnis ist, dass Menschen zum größten Teil aus Wasser bestehen. Wasser und andere Flüssigkeiten werden nicht zusammengepresst wie Luft.«
»Sorry, du hast mich gerade abgehängt. Versteh ich nicht.«
»Machen wir ein Experiment. Stell dir mal vor, du hast zwei Luftballons. Einen davon pustest du auf, den anderen füllst du mit Wasser.«
»Okay. Ich sehe die Dinger deutlich vor mir. Hab beide schon zugeknotet. Was jetzt?«
»Jetzt legen wir die Ballons in den Sammelkorb eines Tauchboots und nehmen sie mit nach unten – weit nach unten. Und, was meinst du, wie sehen die beiden jetzt aus, wenn ein paar Tausend Tonnen Meer darauf drücken?«
»Hm. Der mit der Luft ist wahrscheinlich nur noch so groß wie ein Smartie. Und der mit dem Wasser … lass mich raten: Er hat sich kaum verändert?«
»Genau. Warst du beim Tauchen schon mal in vierzig Meter Tiefe?«
»Nee, aber in dreißig.«
»Auch gut. Du hast da unten bestimmt gemerkt, dass du kurzatmiger geworden bist. Das liegt daran, dass deine Lunge – die mit Luft gefüllt ist – kleiner geworden ist, weil sie in dreißig Meter schon ein bisschen zusammengepresst wird. Wenn man ungeschützt
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