Ruf Der Tiefe
zusammen raus, solange diese Leute hier sind! Aber wir schaffen es schon irgendwie zu fliehen.
Doch leider hatte er keinen blassen Schimmer, wie sie das jetzt noch anstellen sollten.
Freiwild
In einem Nebenraum machte Leon sich daran, seinen Anzug wieder abzustreifen. Wie das Ding dort in tausend Falten auf dem Boden lag, wirkte es wie eine schimmernde Schlangenhaut. Oder wie das, was von einem Menschen übrig war, nachdem ihn gerade ein Alien ausgesaugt hatte.
Entmutigt setzte Leon sich auf den kalten Boden, schloss die Augen und presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Er musste hier raus, runter von diesem Schiff, er hielt das alles nicht mehr länger aus. Draußen gab es solche Probleme nicht, dort war alles so viel einfacher, klarer. Leben. Tod. Nahrung. Jagd. Schutz. Es gab keine verborgenen Motive, keine Lügen, keine …
Leons Gedanken stockten. Nein. Jetzt war er selbst gerade dabei, sich anzulügen. Natürlich kannten auch Tiere die Täuschung. Riesensepien zum Beispiel, enge Verwandte von Lucy, zogen bei der Balz alle Register. Während die großen Männchen damit beschäftigt waren, einander zu imponieren und von dem Weibchen fernzuhalten, schwamm manchmal ein kleines Männchen – das normalerweise nie eine Chance gehabt hätte – als Weibchen getarnt zu der Schönen und paarte sich unauffällig mit ihr.
Auch Lucy war eine Meisterin der Tarnung. Leon hatte oft genug gesehen, wie sie nicht nur die Farbe, sondern sogar die Struktur ihrer Haut in Sekundenbruchteilen der Umgebung anpassen konnte. Das machte es schwierig, Kraken im Meer überhaupt zu entdecken. Aber hier im OceanPartner-Raum nützte ihnen das nicht sonderlich viel … oder doch?
In seinem Kopf wurde aus vielen Mosaiksteinchen ein Bild, entstand ein Plan.
Leon fühlte sich, als sei er ein Roboter mit fast leerer Batterie, den man jetzt endlich wieder an ein Stromkabel angeschlossen hatte. In einer einzigen fließenden Bewegung war er auf den Füßen und aus der Tür. Auf dem Weg zur Kombüse der Thetys .
Doch diesmal war Minh über seinen Besuch und seine Bitte um Unterstützung nicht sonderlich begeistert. »Hallo? Hast du mal dran gedacht, wer genau das Mittagessen macht? Gemüse hacken, Kartoffeln schälen und so was – und das für mehr als sechzig Eierköpfe. Wir legen mit den Vorbereitungen praktisch direkt nach dem Frühstück los …«
»Schon okay«, sagte Leon und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie verzweifelt er war. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, noch länger mit seiner Flucht zu warten. Dieser Mattern war ihm nicht ganz geheuer und er wollte Lucy möglichst auch nicht mit diesen Forschern alleine lassen …
Der Kochsmaat sagte nichts, doch er beobachtete Leon einen langen Moment mit seinen schrägen tiefschwarzen Augen. »Jetzt mal Klartext, Mann. Ist es wirklich wichtig?«
»Ja«, sagte Leon gequält. »Es ist wirklich wichtig.« Plötzlich hatte er eine Idee. »Wenn du uns jetzt hilfst, dann kannst du uns meinetwegen managen. Wenn wir mal eine Vorführung haben.«
Minhs Gesicht hellte sich auf. »In Vegas?«
»Wahrscheinlich eher nicht in Vegas«, wandte Leon ein.
»Aber warum nicht? Alle sensationellen Shows laufen dort, und du und Lucy, ihr seid sensationell! Ich weiß noch, wie du mir gezeigt hast, wie ihr …«
»Minh? Warst du schon mal in Las Vegas?«
»Äh, nein, wieso?«
»Die ganze Gegend ist Wüste. Kein Wasser weit und breit, und vor allem kein Meer. Lucy würde die Krise kriegen.« Und ich wahrscheinlich ebenfalls.
»Ach so.« Minh winkte ab. »Hab ich nicht dran gedacht. Egal, machen wir’s halt in L.A. oder so. Hollywood ist vom Meer nur so weit entfernt, wie ’n Lama spucken kann.«
Sie gaben sich die Hand darauf.
In Rekordzeit hatte sich Leon wieder in seinen Anzug gezwängt und alles für den Tauchgang vorbereitet. Die junge Forscherin beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, was Leon nicht entging. Wahrscheinlich dachte sie, dass er eingesehen habe, seine Krake nicht mitnehmen zu können. In Wirklichkeit sprach er die ganze Zeit über lautlos mit ebenjener Krake und ging mit ihr den Plan durch, einmal, zweimal. Mehr als einen Versuch hatten sie nicht. Entweder, es klappte gleich, oder sie konnten es vergessen.
Ich hätte einen Zettel für Tim dalassen sollen , dachte Leon noch, doch dafür war es jetzt zu spät. Er stieß die Luft aus den Lungen, versiegelte den Anzug und fühlte, wie das Perfluorcarbon über seine Haut rann. Einen Moment lang verspannte er sich, fragte
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