Ruf Der Tiefe
noch ein paar Stündchen, bevor wir da sind«, bot Simmonds an, doch Leon legte sich lieber in eine Nische am Bug des Schiffs, wo der Seewind über sein Gesicht strich. Dort rollte er sich in eine Decke, die nicht allzu schlimm roch und nur voller Katzenhaare war. Er schickte Lucy einen Schlafensgruß und dachte noch einen Moment darüber nach, wie er sich an Land durchschlagen sollte. Wie sollte das gehen, ohne Geld und ohne Verbündete? Er kannte niemanden auf Big Island – und er brauchte dringend jemanden, der ihm half, diese Zahlen und Daten, die auf irgendeine Weise seine Partnerin betrafen, zu interpretieren …
Doch, einen einzigen Menschen kannte er auf Hawaii!
Carima.
Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er an sie dachte. Lächerlich, wieso sollte sie ihm helfen – sie kannten sich doch kaum! Außerdem war sie bestimmt schon wieder abgeflogen, zurück ins ferne Deutschland. Aber was war, wenn nicht? Einen Versuch war es wert. Sie hatte ihm ja ihre Handynummer geschickt. Sein Gedächtnis ließ ihn auch diesmal nicht im Stich, die Nummer fiel ihm sofort wieder ein.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlief er ein … und erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Leon gähnte, streckte seinen langen Körper, der sich nach dem Liegen auf dem Deck anfühlte, als sei er voller blauer Flecke. Mist, seine Arme waren knallrot, er hatte sich einen Sonnenbrand eingefangen, während er geschlafen hatte.
Er tappte zur Bordwand. Eigentlich mussten sie jetzt bald da sein, wahrscheinlich hätte ihn Simmonds sowieso gleich geweckt.
Doch als Leon sah, wo sie sich befanden, war er entsetzt. Es war leicht, die beiden Küsten von Big Island zu unterscheiden – die den Passatwinden zugewandte Ostseite war mit dichtem grünem Regenwald bedeckt, die windabgewandte Westseite hinter den Bergen dagegen bestand vor allem aus kahler Lava. Diese Westküste war es, zu der er wollte … doch was er sah, waren steile grüne Klippen. Sie waren auf der falschen Seite von Big Island! Wo hatte Simmonds ihn hingefahren? Was hatte er vor? Leon fragte sich, wie er auch nur einen Moment lang so blöd hatte sein können, diesem Irren zu vertrauen.
Simmonds saß seelenruhig am Heck, rauchte einen Joint und streichelte den Kater auf seinem Schoß.
»Wo haben Sie mich hingebracht?«, presste Leon hervor, seine Hand krampfte sich um den Seesack mit seiner OxySkin.
»An einen Ort, der genau der richtige ist für Leute wie dich«, erwiderte Simmonds grinsend.
»Sie sind ein verdammter Bastard!«
»Na, na. Ich glaube, du hast auch kein ganz reines Gewissen, oder? Bist ’n netter Kerl, aber verarschen lass ich mich nicht. Jemand, der Lucy kennt, hätte gewusst, dass sie niemals kellnern würde. Sie arbeitet in ’ner Bank! Und jetzt … ab mit dir!«
Ein heftiger Stoß traf Leon, und ehe er es sich versah, stürzte er über die Bordwand, dem Meer entgegen.
Verbündete
Der Arzt beschäftigte sich genau fünf Minuten lang mit Carima. In der Zeit schaffte er es, ihr eine Spritze zu verpassen, ein Pulver zu verschreiben, Schonkost zu empfehlen und für all das neunzig Dollar in bar zu kassieren. »Na, zum Glück kriegen wir das von der Reisekrankenversicherung zurück«, sagte ihre Mutter und seufzte.
Zurück im Hotel, legte sich Carima gehorsam wieder hin, obwohl sie sich nicht krank fühlte, sondern nur frustriert. Als Detektivin war sie bisher eine absolute Null, keinen Schritt war sie weitergekommen! Billie zu erreichen hatte nicht geklappt – wen sollte sie jetzt noch nach Leon fragen? War es einen Versuch wert, Julian noch mal auszuquetschen?
Nathalie brachte ihr ein paar Bücher und eine Suppe, dann setzte sie sich mit ihrem Reader auf den Balkon und lud sich wahrscheinlich einen dieser lustigen Frauenromane herunter, die sie früher immer stapelweise in den Koffer gepackt und nach dem Lesen im Hotel ausgesetzt hatte. Es wäre Carima weitaus lieber gewesen, ihre Mutter hätte sich an den Pool gelegt und ihre Tochter in Ruhe scheinkrank sein lassen.
Unruhig schloss Carima ihr Handy und das W-Pad, das sie bisher nicht ausgepackt hatte, ans Ladegerät an und ließ es eine Internetverbindung suchen. Jetzt konnte sie ihre Mails abfragen, ohne zu den Terminals in der Lobby gehen zu müssen. Natürlich keine neuen Nachrichten von Julian oder Leon. Inzwischen war Carima nicht mehr überrascht darüber.
Es wunderte sie eher, dass sie erst jetzt auf die Idee kam, Leon zu googeln. Auf das Stichwort »Leon Redway« hin
Weitere Kostenlose Bücher