Ruf Der Tiefe
von zu Hause aus an dem Artikel.«
»Hm. Aha. Also, zurück zu den Stammzellen. Das Problem ist, dass viele Menschen es als verwerflich empfinden, menschliche Embryos als medizinisches Material zu nutzen, und Stammzellen aus ihnen zu entnehmen ist in vielen Ländern verboten. Eine absolut heuchlerische Haltung, die ich …«
Ein Klopfen an der Badezimmertür. »Ich gehe kurz runter und hole uns was zu essen. Hast du jetzt Hunger oder nicht?«
Carima stöhnte innerlich und legte die Handfläche über das Handy. »Nein, ich mag nichts essen, habe ich doch schon gesagt. Musst du mich unbedingt auf dem Klo stören?«
»Ich weiß, dass du telefonierst, Cari.« Das klang spitz. »Na gut, also bis gleich.«
Erstaunlicherweise redete der Professor immer noch weiter, er war mitten in einem Monolog über die Freiheit der Forschung und die Kurzsichtigkeit von Regierungen – anscheinend hatte sie nicht viel verpasst. Carima kroch zurück aufs Bett, und als der Professor einen Moment lang Luft holen musste, hakte sie ein: »Ich glaube nicht, dass diese Daten sich auf einen Menschen oder einen Embryo beziehen.« Das Einzige, was sie von diesem Datenblatt verstanden hatte, war ›Objekt: Octopus‹ gewesen und das ließ nur einen Schluss zu – bei der ganzen Sache ging es um Lucy.
»Hm. Ja. Sie beziehen sich auf die erste Zeile, wo von einem Kraken die Rede ist. Das ist in der Tat sehr merkwürdig. Nirgendwo ist das Alter des Tieres vermerkt, aber mir scheint, dass es bereits erwachsen ist. Ja, ich erinnere mich dunkel, davon gehört zu haben, dass Stammzellen in Meereslebewesen gefunden worden sind …«
»Was bedeutet eigentlich dieser letzte Satz, der mit dem Letalzeitpunkt?«
»Letalzeitpunkt bedeutet Moment des Todes. Es besagt also einfach, dass die nächste Entnahme sehr wahrscheinlich mit dem Tod des Tieres einhergehen wird. Es ist jedoch …«
Die Tür des Hotelzimmers ging auf und diesmal fiel Carima kein weiteres Ablenkungsmanöver ein. »Vielen Dank für die Auskünfte«, sagte sie schnell, unterbrach das Gespräch und stellte sich schlafend. Die Schritte ihrer Mutter durchquerten das Zimmer, echoten auf dem Balkon.
Stammzellen, aus denen man Ersatzorgane züchten konnte! Konnte es sein, dass Lucy, ausgerechnet Leons Partnerin, der Schlüssel dazu war? Wenn Lucys Körper Stammzellen enthielt, konnte man sie vielleicht für medizinische Zwecke nutzen – vielleicht sogar für die Behandlung von menschlichen Geweben? Hätte die ARAC dafür kaltblütig Lucys Tod in Kauf genommen und war Leon deswegen geflohen? Carima schwirrte der Kopf.
Hoffentlich rief er bald an, sie musste das alles dringend mit ihm besprechen. Unauffällig warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Die zwei Stunden waren bald um. Vielleicht verriet Leon ihr diesmal, wo er war. Sie freute sich schon darauf, seine Stimme zu hören. Hoffentlich hatte er es inzwischen geschafft, einen Arzt aufzutreiben! Es machte sie fast verrückt, nicht zu wissen, was passiert war und wie schlimm er verletzt war!
Doch Leon rief nach den vereinbarten zwei Stunden nicht an.
Und auch nicht nach drei oder vier Stunden.
Carima wusste nur eins – bei welchen Irren auch immer sich Leon befand, irgendetwas ging dort gerade entsetzlich schief.
Als Leon von Jonah Simmonds so unsanft ins Wasser befördert worden war, hatte er instinktiv die Luft angehalten und sich sinken lassen. Doch er sah nicht viel, nur unscharfes Blau – er hatte ja nicht mal eine Maske wie gewöhnliche Taucher. Seine Jeans und das T-Shirt hatten sich schon mit Salzwasser vollgesogen und behinderten beim Abtauchen seine Bewegungen, wie die OxySkin es nie getan hatte. Leons Hand war noch immer um den Trageriemen des Seesacks gekrampft, in dem sich seine Ausrüstung befand, das Zeug war mit ihm im Meer gelandet. Zum Glück – zurückgelassen hätte er es niemals!
Vielleicht wunderte Simmonds sich darüber, dass der Junge, den er über Bord geworfen hatte, gar nicht mehr hochkam. Doch selbst unvorbereitet und außer Übung schaffte Leon es ohne größere Probleme, zwei Minuten lang ohne Luft auszukommen.
Das Grollen der Dieselmotoren erfüllte das Wasser um Leon herum, es schien von überall her zu kommen. Leon blickte hoch und sah den Rumpf der Lovely Lucy über sich, dunkel und rund wie ein Wal. Ein Schwarm fingerlanger silberner Fische hatte darunter Schutz gesucht, die sah er selbst ohne Maske – doch wo war seine, die einzig wahre Lucy? Ah, da kam sie schon auf ihn zu; wenn sie sich
Weitere Kostenlose Bücher