Ruf Der Tiefe
kamen zwanzig Treffer – nicht gerade viel, sie selbst brachte es inzwischen auf locker zweihundert. Er hatte keine Homepage, dafür gab es eine Reportage in einer Kinderzeitschrift über ihn: Der jüngste Forscher der Welt. Gemeinsam mit seinen Eltern versucht Leon Redway (9) im Indischen Ozean herauszufinden, wie der Klimawandel Korallenriffe bedroht. Das Foto zeigte ein schüchtern in die Kamera lächelndes Kind mit Tauchmaske, Flossen und einem wasserfesten Block für Aufzeichnungen. Unwillkürlich lächelte Carima zurück. Einmal entdeckte sie Leon auf der Teilnehmerliste einer Meisterschaft: Apnoe Diver Challenge California , 2. Platz, und ein paarmal wurde er auf der Homepage des Meeres-Internats von San Diego erwähnt, dieser School of the Sea. Doch von seinem zwölften Lebensjahr an – nichts mehr. Völlig von der Bildfläche verschwunden. Nicht mal ein Facebook-Eintrag oder so was. Zu dieser Zeit musste er in Benthos II eingezogen sein.
Und dann fand Carima einen Artikel über den Tod seiner Eltern. Es fühlte sich seltsam und irgendwie unrecht an, ihn zu lesen und auf diese Weise in Leons Leben einzudringen. Doch sie schaffte es einfach nicht, den Text wegzuklicken.
Forscherehepaar bei Bootsunfall ums Leben gekommen
Es sollte ein Routinetrip werden – und wurde zu einer Fahrt in den Tod. Am vergangenen Dienstag fuhren John Alan Redway und seine Frau Juliette (38 und 42 Jahre alt) und zwei ihrer Mitarbeiter mit dem dreißig Meter langen Forschungsschiff Xanthia zum unterseeischen Monterey Canyon, um dort Tests mit einem neuartigen Tauchanzug durchzuführen. Als sich das Wetter unerwartet verschlechterte, mussten die Forscher ihr Vorhaben abbrechen. Auf der Rückfahrt wurde die Xanthia von einer hohen Welle getroffen und John Redway fiel über Bord. Beim Versuch, ihrem Mann zu helfen, verlor auch Juliette Redway den Halt und stürzte ins Meer. Die beiden anderen Besatzungsmitglieder waren nicht in der Lage, die Forscher zu bergen, und eine sofort eingeleitete Suchaktion der Küstenwache blieb erfolglos. Das Ehepaar, das unter Kollegen einen hervorragenden Ruf genoss, leitete im Konzern ARAC die Abteilung für experimentelle submarine Forschung. John Alan und Juliette Redway hinterlassen einen Sohn, Leon (9).
Carimas Handy klingelte. Vielleicht jemand aus Deutschland, der noch nicht mitbekommen hatte, dass sie gerade ziemlich weit weg war. Abwesend nahm Carima das Gespräch an.
»Hier ist Leon. Leon Redway, erinnerst du dich noch?«
Leon? Leon! Carima wurde abwechselnd heiß und kalt. »Ja … ja, klar erinnere ich mich«, brachte sie schließlich heraus. Ich habe dich gerade gegoogelt. Ich lese eben etwas über den Tod deiner Eltern. Ach ja, und wusstest du schon, dass ich deinetwegen meinen Heimflug habe platzen lassen?
»Es ist eine Menge passiert – ich musste mit Lucy fliehen und zurzeit bin ich an Land …« Seine Stimme klang gepresst, und etwas lag darin, das Carima Sorgen machte.
»Bist du verletzt?«, fragte sie spontan.
Er zögerte mit der Antwort, so als sei es ihm peinlich, es zuzugeben. »Ja.«
Vielleicht hörte er, dass sie erschrocken Luft holte, denn er fuhr schnell fort: »Ist nicht so wichtig. Ich komme schon irgendwie klar. Nur … vielleicht könntest du …«
»Brauchst du Hilfe?« Carima warf einen schnellen Blick zum Balkon hinüber. Was für ein Glück, der Roman schien gut zu sein. »Ich helf dir gerne, wenn ich kann.«
»Okay.« Es klang erleichtert, ein Stoßseufzer. »Könntest du vielleicht irgendwie einen Biologen auftreiben, der mir ein paar Daten interpretiert? Ich diktiere sie dir – hast du etwas zu schreiben?«
»Äh, Moment.« Hastig glitt Carima aus dem Bett, kramte in ihrem Koffer, in ihrem Rucksack, in ihrer Jacke nach einem Stift. Na also, neben dem Telefon lag einer. »So, bin wieder da. Leg los.«
»Objekt: Octopus variation multispecies. Hämapherese: in Ordnung. Volumen / Zellzahl: 7 Mikroliter / 8 Millionen Zellen. Kryopräzipität: Basalstandard erfüllt …«
So schnell sie konnte, kritzelte Carima mit, obwohl sie aus kaum einem Wort schlau wurde. Sie hatte mit allem gerechnet: dass er einen Arzt oder Geld brauchte, ein Fahrzeug, einen falschen Pass, jemanden, der ihm eine Leiche beseitigen half – und jetzt das!
»Beschreibung der Probe: Stammzellbeprobung positiv, Teilungsrate 60 %, neurologische Matrix negativ, extrazelluläre Matrix kann eingesetzt werden, Pluripotenz positiv. Anamnese: Letalfaktoren müssen beobachtet werden, finaler
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