Ruf Der Tiefe
hinabsinken ließ, breitete sie ihren Körper aus wie einen Fallschirm. Sonnenlicht schien durch die dünne rötlich braune Haut zwischen ihren Armen. Ein seltsames Wesen dieser da auf dem Boot, hat er wehgetan?
Nein, aber ich weiß nicht, wohin er mich gebracht hat und was das hier für eine Küste ist.
Vergnügt gab Lucy zurück: Komm, schwimmen wir und sehen wir, Zweiarm!
Er spürte ihre Freude darüber, dass ihr Partner wieder bei ihr im Meer war. Leon suchte im Seesack nach seinen Flossen und rollte sich unter Wasser zusammen, um sie sich über die Füße zu streifen. Irritiert spürte er ein Engegefühl in seiner Brust – er brauchte Luft. Statt hier mit Lucy unter Wasser bleiben zu können, musste er hoch. Das war ungewohnt, nicht nur für ihn. Lucy blickte ihm mit ihren unirdischen Augen verblüfft nach, als er nach oben schoss.
Tja, ich bin halt doch nur ein gewöhnliches Säugetier, meinte Leon.
Dann los jetzt, mein Freund Säugetier, gab Lucy charmant zurück. Vielleicht bald wünschst du dir auch noch FESTEN BODEN!
Leon durchbrach die Wasseroberfläche. Er schöpfte Atem, fühlte, wie die tropische Sonne auf seinen nassen Kopf brannte, und blickte kurz zurück. Vor sich hin brabbelnd schrubbte Simmonds das Achterdeck. Offensichtlich interessierte es ihn nicht im Geringsten, ob er seinen ehemaligen Gast ertränkt hatte oder nicht.
Froh, so glimpflich davongekommen zu sein, machte sich Leon mit gleichmäßigen Beinschlägen auf den Weg.
Die Küste bestand vor allem aus steilen, grünen Klippen – doch Leon entdeckte ein Tal, aus dem ein Fluss ins Meer mündete, und dort sah er auch einen der schwarzen Strände, die für Big Island so typisch waren. Allerdings war dieser hier eher grau und außerdem schmal, außer an der Flussmündung. Kein Mensch weit und breit, kein einziges Haus war in Sicht. Was hatte Simmonds gemeint mit »ein Ort, der genau der richtige ist für Leute wie dich«? Setzte man Übeltäter auf Hawaii traditionell in einer Einöde aus, damit sie dort verhungerten? Eher unwahrscheinlich.
Leons Gedanken wandten sich wieder dem Rätsel zu, was die ARAC mit Lucy vorhatte und was es bedeuten könnte, was er am Lo’ihi beobachtet hatte. Doch die ganze Grübelei brachte ihn nicht weiter, noch fehlten ihm einfach zu viele Puzzleteilchen.
Das Wasser war trübe und eine tückische seitliche Strömung trieb ihn ein ganzes Stück ab. Hartnäckig kämpfte Leon sich voran und entdeckte dabei, dass er sich geirrt hatte – die Küste war nicht ganz verlassen, an der anderen Seite der Bucht paddelten zwei Surfer gerade eine Welle an.
Als er und Lucy sich dem Strand näherten, sahen sie auf dem Meeresboden Lavafelsen, auf denen sich Korallen, Muscheln und Seeanemonen angesiedelt hatten. Vielgroß gemütlich , urteilte Lucy wohlwollend. Verstecke gut und zu fressen noch besser. Ich bleibe. Du gehst an Land?
Verzeih mir, ja, das tue ich , erwiderte Leon, verabschiedete sich an der Oberfläche von seiner Partnerin und ließ sich von den Wellen an den Strand tragen. Einen Moment lang blieb er in der Brandung liegen wie eine Robbe, die gerade von der Jagd heimkehrt, und blickte sich um. Palmen gab es hier keine, die Flussmündung war mit spitzen Nadelbäumen bewachsen, vielleicht Zypressen oder so was. Dahinter begann tropisches Buschwerk, mehr konnte er von hier aus nicht erkennen.
Leon richtete sich auf und stapfte durch den sonnenwarmen grauen Sand. Jeans und T-Shirt hingen ihm schwer und tropfend am Körper. Als er gerade beginnen wollte, das Zeug ausziehen, spürte er, dass er nicht alleine war. Und es war nicht Lucys Anwesenheit in seinem Kopf – sie war jetzt so weit entfernt, dass er sie nicht mehr wahrnehmen konnte.
Rasch blickte Leon sich um und sah in kaum zwanzig Meter Entfernung im Schatten der Bäume einen jungen Mann stehen, regungslos wie ein Raubtier, das auf Beute wartet. Er war kaum älter als zwanzig und vermutlich Hawaiianer – er hatte braune Haut, ein rundes Gesicht und tiefschwarzes Haar. Wirr stand es nach allen Seiten vom Kopf ab. Der Kerl trug ein ledernes Hemd auf der bloßen Haut und dazu Khakishorts; seine Füße steckten in uralten violetten Crocs.
Mit durchdringendem, kühlem Blick musterte ihn der junge Mann, dann kam er langsam näher. Als sie sich gegenüberstanden, ließ der Fremde den Blick über das Meer schweifen, dann richteten sich seine nachtschwarzen Augen auf Leon. »Mir scheint, du bist mit Kanaloa verbündet«, sagte er ernst in akzentfreiem
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