Ruf Der Tiefe
kleine Kolonie – aber es gibt immer mehr von uns, auch in den Städten.« Leahs Augen blitzten kampfeslustig. »Wir beweisen an jedem einzelnen Tag, dass Menschen nicht nur zerstören und ausbeuten. Deshalb nennen wir uns NoComs. Von No Compromise – wir gehen keine faulen Kompromisse ein.«
»Schön und gut«, sagte Leon und biss die Zähne zusammen, als er seinen Arm versehentlich falsch bewegte. »Aber habt ihr wenigstens fließendes Wasser? Wo ich die Verletzung hier auswaschen kann?«
»Auf Wasseranschlüsse und Telefon muss man verzichten, wenn man hier wohnen möchte. Strom gibt’s auch nicht viel, nur was die Sonne uns schenkt.« Leah zuckte die Schultern. »Du kannst frisches Regenwasser aus einer unserer Tonnen benutzen.«
»Kein Telefon?«, fragte Leon beunruhigt. Was wurde dann aus seinem Plan, Carima anzurufen und sie um Unterstützung zu bitten? »Ich muss aber wirklich dringend telefonieren!«
Skeptisch blickte Leah ihn an. »Du könntest es bei Charlene versuchen. Sie hat als Einzige von uns ein Satellitentelefon. Vielleicht darfst du es mal benutzen, wenn du nett Bitte sagst.«
Inzwischen waren sie bei einem großen, aus Bambus gebauten Langhaus angekommen, das von einer umlaufenden Veranda umgeben war. Davor erstreckte sich eine Art Dorfplatz aus festgestampfter Erde. Gerade ging ein junger Mann über den Platz und warf ihnen einen kurzen Blick zu. Er war fast zwei Meter groß; ein ärmelloses Hemd schlackerte um seinen knochigen Körper, und die kurzen bunten Shorts wirkten an ihm ebenso lächerlich wie die gigantischen, ausgelatschten Sportschuhe an seinen Füßen.
»Das ist Big T.«, erklärte Leah. »Unser Hacker. Wenn die NBA Championships – die Basketball-Meisterschaften – laufen, quetscht sich die Hälfte unserer Leute in seine Hütte, weil er den einzigen Fernseher hat. Und den einzigen Computer.«
Aha – anscheinend so eine Art Hightech-Aussteiger, der doch nicht ganz auf seine Droge verzichten konnte. Leon blickte ihm neugierig hinterher.
Leah verschwand kurz im Langhaus und kam mit einer kleinen Porzellanschale wieder zum Vorschein. »Jetzt aber zu deinem Arm. Dieses verdammte Leiomanu von Mo, das ist ganz schön scharfkantig.« Leah ging zu einem Baum mit verschlungenen Ästen und spitzen, ledrigen Blättern, ritzte mit einem Messer die Rinde an und fing den Saft, der daraus hervortrat, geschickt in der Schale auf. »Moment, gleich haben wir’s.«
»Wie viele Leute leben eigentlich in diesem Tal?«, fragte Leon, um sich abzulenken.
»So um die fünfzig«, erzählte Leah, während sie das Zeug auf Leons Arm schmierte. Es brannte ein wenig – hoffentlich bedeutete das, dass es half. »Früher waren es mal ein paar Tausend Menschen. Doch im Jahr 1946 spülte ein Tsunami alles weg. Wer überlebt hat, ist weggezogen. Jetzt gehört dieses herrliche Tal uns und jedem anderen, der hier wohnen will. Wie fühlst du dich?«
»Besser«, sagte Leon und musterte das metallene Amulett, das Leah an einer Lederschnur um den Hals trug. Ein Kreis mit drei geschwungenen Linien darin, die sich am Rand zu Spiralen bogen. Sah ein bisschen wie ein kranker Seestern aus. »Ist das euer Zeichen?«
»Ja. Das Triskell.« Vorsichtig drehte Leah das Metall zwischen den Fingern. »Ein altes keltisches Zeichen. Für uns symbolisiert es die Dreiheit der Dinge. Der Mensch, die Natur, das Göttliche. Das Land, das Meer und der Himmel. Vögel, Landtiere, Fische. Das kommt übrigens auch in dem Roman vor, den ich gerade schreibe, Drei Zeichen für die Welt heißt er im Moment.«
»Hübscher Titel«, sagte Leon, schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. Leah hatte recht, es war herrlich hier. Wieso sollte er nicht eine Weile hier untertauchen – diesmal nur im übertragenen Sinne? Ausruhen, neue Kraft für die Flucht schöpfen? Nach seiner Odyssee durch die Tiefsee hatte er eine Pause dringend nötig. Und selbst wenn sie ihn hier suchten, würde er sich mühelos verstecken können. Lucy mochte die Küste und er konnte sie dort jederzeit besuchen. Vielleicht schaffte er es sogar irgendwie, die OxySkin und sein DivePad zu reparieren. Jetzt kam es nur darauf an, ob er hier auch willkommen war.
»So, und jetzt sollten wir dich Joe vorstellen«, fuhr Leah fort. »Er ist ein echt cooler Typ. Hatte, als er jung war, eine kleine Cannabisplantage im Garten und viele bunte Batik-hemden, aber dann wurde ihm klar, dass man mit Sitzstreiks nicht wirklich was bewegen kann. Also ist er Jurist
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