Ruf der Vergangenheit
und wenn Silentium die einzige Hoffnung für den kleinen William sein sollte, den Dev als Neugeborenen in den Armen gewiegt hatte, würde dieser dann ebenfalls lernen, Farben zu meiden. Warum gerade Farben? Vielleicht lag es daran, dass sie genau wie Musik etwas in den Medialen ansprach, das nicht sein durfte. Mediale sangen nicht, sie gingen nicht in Konzerte und hörten auch zu Hause keine Symphonien. Man sagte, dass sich ihre Stimmen monoton anhörten, aber er glaubte nicht, dass dieser Umstand naturgegeben war. Wahrscheinlich war Silentium der Grund dafür, denn nur kalte Kontrolle konnte starke Gefühle, die nicht zurückgehalten werden sollten, so wirksam unterbinden.
Hinter ihm ging die Tür auf. „Was ist, Maggie?“
„Das ist wohl kaum die angemessene Begrüßung für deine Nani , Devraj.“
Er drehte sich auf dem Absatz um und eilte mit großen Schritten durch das Büro, um seine Großmutter in die Arme zu nehmen. „Was machst du denn hier?“ Es roch nach Gewürzen und Farbe und nach einem Hauch von etwas, das er immer für Glas gehalten hatte. Als hätte Kiran Santos’ Arbeit ihr ganzes Wesen durchdrungen. „Wo ist Nana ?“
„Den habe ich zu Hause gelassen.“ Seine Großmutter blinzelte, als er sie losließ. „Ich wollte etwas Zeit mit meinem anderen Liebling verbringen.“ Starke Hände mit vielen Narben legten sich auf seinen Oberarm. „Du siehst müde aus, Beta .“
„Du sollst doch nicht herkommen“, sagte er. „Das weißt du doch.“
„Meinst du, die Spione der Medialen wüssten nichts von meiner Existenz?“ Sie drückte seinen Arm. „Natürlich wissen sie es. Sie halten mich nur für kraftlos, dabei bin ich reine Kraft.“
Noch nie hatte er einen Streit mit seiner Großmutter gewonnen; er gab nach. „Warum bist du gekommen?“ Sie hatte sich nie in seine Führung von Shine eingemischt, auch wenn sie nicht mit all seinen Entscheidungen einverstanden gewesen war – zum Beispiel hatte sie es für falsch gehalten, dass er durch sein Vorgehen einen Herzinfarkt bei einem Mitglied des Aufsichtsrats hervorgerufen hatte. Dev hatte sich nicht dafür entschuldigt, es war ihm unmöglich gewesen. Denn die Mitglieder des alten Aufsichtsrats hatten die Wahrheit vor ihnen verborgen und geschwiegen.
Und während der ganzen Zeit waren ihre Kinder gestorben, der Rat hatte sie systematisch ausgemerzt.
„Du hast mich gebraucht“, sagte seine Großmutter und wechselte, ohne zu stocken, vom Englischen ins Hindi. „Warum hast du nicht angerufen oder Kontakt über das Schattennetz zu mir aufgenommen?“
„Weil es keine Lösung für mein Problem gibt.“
„Diese Frau“, sagte sie, „bedeutet dir sehr viel.“
„Ja.“ Deutlich und klar. „Ja.“
„Erzähl mir von ihr.“
Das tat er. Denn Kiran Santos gehörte zu den wenigen Leuten, denen er blindlings vertraute.
„Ich würde Ming am liebsten umbringen – ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen – aber ich brauche von ihm den Schlüssel für Katyas Gefängnis, um die Programmierung zu löschen. Deshalb muss ich mit ihm reden.“
„Devraj, eines muss dir klar sein … es ist völlig sinnlos, Ming die Pistole auf die Brust zu setzen. Es sei denn, es gelingt dir irgendwie, ihm alle Fluchtwege abzuschneiden.“
Ihre pragmatische Art war eines der Dinge, die er so an seiner Großmutter schätzte. „Der Schlag muss hart und schnell erfolgen.“ Brutal. „Selbst wenn es Ming gelingen sollte, telepathisch Unterstützung herbeizurufen, muss ich ihn davon überzeugen, dass er tot sein wird, bevor seine Helfer eintreffen.“
„Das klappt nur, wenn er keine Teleporter zur Verfügung hat, und davon würde ich nicht ausgehen.“
„Unseren Informationen zufolge gibt es nur einen echten Teleporter, und der Nachrichtendienst meldet, dass er sich irgendwo in Südamerika herumtreibt – und keine Verbindung zu Ming hat“, warf Dev ein. „Alle anderen sind TK-Mediale. Sie können teleportieren, aber nicht annähernd schnell genug.“
„Das reicht immer noch.“ Seine Großmutter beugte sich vor und runzelte die Stirn. „Wir müssen mit dieser Frau darüber reden. Mit deiner Katya.“
„Nein. Ich kann nicht das Risiko –“
„Schweig, Devraj.“ Sie lächelte stolz. „Glaubst du wirklich, du könntest mich mit Argumenten schlagen?“
Er wollte sie böse ansehen, aber er liebte sie einfach zu sehr. „Ich will dich nicht in Gefahr bringen. Katya wollte mich töten“, sagte er geradeheraus. „Es könnte sein, dass sie darauf
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