Ruf der Vergangenheit
selbst gespeist. Ming hatte sie in ihrem Geist eingeschlossen und sie dann so programmiert, dass ihr Verstand die Mauern aufrechterhielt. Ihre Hände klammerten sich an das Laken, an die Matratze. Sie war nicht nur eine Gefangene, sie war zugleich auch ihre eigene Wärterin.
Dev ließ Sascha Duncan nicht aus den Augen, als sie sich zu Cruz ans Bett setzte. Ihr Gefährte legte ihr die Hand auf die Schulter. Cruz’ Blick wanderte zwischen Lucas und Dev hin und her. Sascha seufzte. „Könntet ihr beide aufhören, euch anzustarren, als würdet ihr gleich die Pistolen ziehen?“
„Keine Waffen“, sagte Dev, ohne den Blick von Lucas abzuwenden.
Sascha runzelte die Stirn. „Lucas!“ Er sollte sich bloß benehmen.
In den Augen des Leoparden glitzerte das Raubtier. „Mach ich, wenn er es auch tut.“
Cruz’ Mundwinkel verzogen sich, als er auf Devs Antwort wartete.
„Da Sie Gast sind“, sagte Dev und lehnte sich neben der Tür an die Wand, „schenke ich Ihnen diese Runde.“
„Wie großzügig von Ihnen.“ Da Dev sich bewegt hatte, trat Lucas noch näher an seine Frau heran. „Siehst du, Sascha, wir sind jetzt Freunde.“
Sascha wandte sich an Cruz. „Was meinst du, wie alt sind sie?“
Seine Wangen färbten sich rot, als er antwortete: „Zehn?“
Sascha lachte laut, und Dev erkannte mit einem Mal, wer sie wirklich war. Einige Empathen waren den Vergessenen gefolgt, aber viele waren im Medialnet geblieben, gegen alle Wahrscheinlichkeit hoffend, dass ihre bloße Anwesenheit ihrem Volk helfen konnte. Seine Urgroßmutter Maya war noch ein Kind gewesen, als sich ihre Eltern entschlossen, dem Medialnet den Rücken zu kehren. Ihre empathischen Fähigkeiten bewegten sich in einem mittleren Rahmen. Dev hatte geglaubt, er würde alles über Empathen wissen … aber er war nie zuvor einer kardinalen Empathin begegnet.
Kein fühlendes Wesen konnte Sascha Duncan hassen oder gar wütend auf sie sein. Nun verstand er auch, warum Empathen im Medialnet systematisch unterdrückt und in ihren Fähigkeiten beschränkt wurden – sie waren eine Gefahr für die Machtgelüste des Rats. Wenn Silentium wegbräche, würden die Empathen die Führung übernehmen können.
Trotz ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten fühlte er nichts als Bewunderung für Sascha. Sie weckte keinesfalls so komplizierte und verstörende Gefühle in ihm wie jene Frau, die schweigend im hinteren Teil des Hauses saß.
Es machte ihn völlig fertig, dass er sie nicht freilassen konnte.
In diesem Moment sah Sascha ihn an, in ihren Augen stand nichts als Wärme. „Sie können mir Cruz ruhig überlassen.“ Sie blickte sich nach Lucas um. „Sag nichts. Wer soll schon durch das Fenster springen, wenn das halbe Rudel draußen Wache hält?“
Lucas richtete sich auf, als Dev sich davon überzeugte, ob Cruz damit einverstanden war, mit Sascha allein zu bleiben. Der Junge hielt bereits ihre Hand. „Sollen Tag und Tiara die Schilde aufrechterhalten?“
„Ja.“ Sascha lächelte, als Lucas sich vorbeugte und ihren Nacken küsste. „Heute werden wir den grundlegenden Schutz aufbauen. Aber ich glaube, Cruz wird schnell lernen.“
Dev ging mit dem Alphatier der Leoparden hinaus und schloss die Tür hinter ihnen. „Für eine Schwangere ist Sascha ziemlich dünn.“
„Wollen Sie damit sagen, ich sorge nicht gut für meine Gefährtin?“, fauchte Lucas ihn an.
„Hör auf, ihn zu ärgern, Dev“, sagte Tiara, die im Schneidersitz vor dem Bildschirm im Wohnzimmer saß. „Du weiß doch, wie wild Gestaltwandlerraubtiere werden, wenn es um ihre schwangeren Gefährtinnen geht. Tag, kümmere dich um sie.“
Tag sah seufzend auf. „Muss das wirklich sein, meine Herren?“
Lucas’ Augen sahen wieder menschlich aus, er schien etwas zwischen Tag und Tiara wahrzunehmen, das nicht für ihn bestimmt war, aber er sagte nichts. „Ich möchte Katya kennenlernen.“
Dev gefiel die vertrauliche Anrede nicht, er trat auf den Flur. „Sie bleibt bei mir.“
„Nun ja …“ Lucas zuckte die Achseln. „Ashaya steht ihr sehr nahe.“
„Das ist nicht verhandelbar.“
Lucas sah ihn von der Seite an. „Reden Sie so mit ihr?“
„Geht Sie einen Scheißdreck an.“
„Hab ich mir schon gedacht.“ Ein katzenhaftes Grinsen. „Ich will Ihnen mal einen Rat geben – Frauen sollte man nicht anknurren. Das macht sie wütend.“
„Fick dich“, sagte Dev ganz ruhig.
Lucas lachte. „Hab ich nicht nötig. Bei so einer wundervollen Gefährtin.“
In diesem Augenblick
Weitere Kostenlose Bücher