Ruf der Vergangenheit
Dinge getan, an die ich mich lieber nicht erinnern würde.“
Die Angst in ihrer Stimme erschütterte ihn. Er hatte in ihr nur die Überlebende gesehen, die Frau mit dem eisernen Willen, die von ihm verlangt hatte, er solle sie gegebenenfalls töten. Aber sie war eine mediale Wissenschaftlerin gewesen und hatte vielleicht unentschuldbare Dinge getan. „Die Frau aus dem Labor“, sagte er nun barsch, „ist in den Monaten gestorben, die du in der Gewalt einer Bestie verbracht hast.“
„Das wäre zu einfach.“ Unerbittlich. „Nein, ich muss es mir ansehen, muss Gewissheit haben.“
„Dann mach es.“ Er legte die Hand auf ihren Nacken, um sein Verlangen nach Berührung zu stillen. „Du hast einen unbeugsamen Willen, das weiß ich.“
„Dann weißt du ja auch, dass ich mein Angebot nicht zurückziehen werde“, sagte sie, und ihre changierenden Augen sahen ihn an. In diesem Augenblick schienen sie im Sonnenlicht fast durchsichtig zu sein. Doch dadurch sah sie nicht weniger entschlossen aus. „Ich will, dass du dich in meinen Kopf umsiehst.“
26
Nachdem Kaleb den Bericht gelesen hatte, den seine Assistentin über die Situation in Sri Lanka angefertigt hatte, ging er hinaus – bis an den Rand der Terrasse, die sich über einer zerklüfteten Schlucht erhob – und öffnete seinen Geist. Doch er betrat das Medialnet nicht als der Kardinalmediale und Ratsherr Kaleb Krychek, sondern im Schutz einer Feuerwand, die sich ununterbrochen bewegte und so seine Identität verbarg.
Nikita Duncan wäre sehr erstaunt gewesen, wenn sie gewusst hätte, woher er diesen Trick kannte. Er hatte Sascha Duncan beobachtet, als sie noch im Medialnet war – der Netkopf hatte eine Vorliebe für die Tochter der Ratsherrin entwickelt, und Kaleb wollte den Grund dafür herausfinden. Doch ihre Schilde hatten sich als unüberwindbar erwiesen – bessere Schilde hatte er noch nie zuvor gesehen. Was er gelernt hatte, bevor er sie wieder in den Weiten des Medialnet verlor, war nützlicher als alles, was er bis dahin erfahren hatte.
Nun schoss er quasi unsichtbar durch den nächtlichen Himmel des Medialnet zu dem sich ausbreitenden dunklen Fleck, den er Nikita gezeigt hatte. Statt des üblichen Weges stieß er auf einen Strom, der mitten hineinführte, wie ein Fluss in einen See.
Er hatte keine Angst vor Kontamination – er wusste, was dieser dunkle Fleck bedeutete. Hatte die Schwingungen des Dunklen Kopfes erkannt – des stummen, verborgenen Zwillings des Netkopfs, der aus dem Zorn und dem Schmerz entstanden war, den Gefühlen, die die Medialen nicht mehr spüren wollten. Auch in ihm gab es diese Schwingungen. Denn er war mehr als ein gewöhnlicher Kardinalmedialer mit telekinetischen Fähigkeiten. Zeit und Umstände hatten aus ihm den perfekten Kanal geformt. Deshalb konnte er sich gefahrlos in dunklen Gewässern bewegen, selbst wenn er mit dem Dunklen Kopf „sprach“.
Die neue Wesenheit konnte ihm nichts zu den Aufständen in Colombo sagen, schickte ihm aber eine Flut von Bildern, aus denen Kaleb den Weg zum Anker der Region herausfilterte. Er hatte Nikita nicht belogen – er glaubte wirklich nicht, dass die kürzlich aufgetretenen Gewalttätigkeiten für diesen toten Fleck im Medialnet verantwortlich waren, aber sie waren ein Faktor … und erschütterten die Grundfesten des Medialnet. Noch hatten sie nicht Lawinencharakter angenommen, und die Zunahme freiwilliger Rehabilitationen konnte den Prozess verlangsamen, aber früher oder später würde das Fundament nachgeben.
Dann würde sich der Fleck ausbreiten. Und der Tod würde über sie alle kommen.
27
Katya kam nicht aus ihrem Zimmer, als die anderen eintrafen. Dev hatte ihr zwar nichts dergleichen befohlen, hatte nicht einmal eine Wache vor ihre Tür gestellt, aber sie würde niemanden in Gefahr bringen, nur weil sie sich sonst ausgeschlossen fühlte. Vielleicht stimmte es ja, dass Ming sie nicht permanent überwachte – nichts wies auf Gedankenkontrolle hin –, aber sie konnte doch nicht das Leben anderer aufgrund einer dermaßen unsicheren Annahme aufs Spiel setzen.
Doch wenn Ming tatsächlich ihren Geist im Medialnet abgeschottet hatte, wie hielt er diesen Zustand dann ohne Gedankenkontrolle aufrecht? Soweit sie sehen konnte, gab es keinerlei Verbindung außer dem lebenswichtigen Feedback.
Keine Verbindung …
„Oh“, sagte sie laut, als ihr klar wurde, welche Fähigkeiten Ming im geistigen Zweikampf besaß. Der Schild, ihr Gefängnis wurde von ihr
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