Ruf der Vergangenheit
Instinkt folgen, der ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Die Frau neben ihm – seine Frau – brauchte das, und er würde es ihr nicht vorenthalten.
„Verrate mir etwas“, sagte er, als sie schwieg und aus dem Fenster starrte.
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie aus einer Trance geholt. „Was denn?“
„Du hast von deinen Eltern gesprochen, magst du mir etwas über sie erzählen?“ Sie sollte nicht mehr an das drohende Dunkel denken, dem sie unerbittlich näher kamen. Es würde nicht mehr lange dauern. Schon heute Abend, spätestens morgen früh wären sie am Ziel angelangt.
„Also gut“, sagte sie nach einer langen Pause. „Meine Eltern hatten ein gemeinsames Elternschaftsübereinkommen getroffen, und wir lebten zusammen. Sie haben sich immer miteinander abgesprochen, bevor sie eine Entscheidung über meine Zukunft trafen.“
„Hört sich nicht schlecht an.“ Auf jeden Fall weit besser, als er erwartet hatte.
„Es war ein gutes Leben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an. „Aber mehr auch nicht. Als ich mit achtzehn auszog, änderte sich nichts, außer dass ich selbst die Entscheidungen fällen durfte.“
„Ich dachte, Loyalität in der Familie würde bei Medialen großgeschrieben.“
„Das stimmt, aber es ist eine kalte Art von Loyalität. Einen Monat, nachdem ich volljährig geworden war, haben meine Eltern – die seit meinem achtzehnten Geburtstag nicht mehr zusammenlebten – den Vertrag über ihre gemeinsame Elternschaft aufgelöst, und ich kann mich nicht erinnern, je einen von ihnen wiedergesehen zu haben.“ Sie zuckte die Achseln. „Sie hatten ihr Ziel erreicht, ihre Aufgabe erfüllt. Ich habe natürlich Verbindungen zu beiden Familien. Aber mit einundzwanzig musste ich mich für die Zugehörigkeit zu einer entscheiden.“
„Warum?“
„Weil Mediale nur absoluter Loyalität vertrauen“, sagte sie. „Ich musste mich offiziell für die mütterliche oder väterliche Seite entscheiden.“
„Und welche hast du gewählt?“, fragte Dev, den der Blick auf die Kräfte faszinierte, die Katya geformt hatten.
„Die väterliche“, antwortete sie. „Die Familie meines Vaters engagiert sich in wissenschaftlicher Forschung, die meiner Mutter konzentriert sich auf wirtschaftliche Dinge. Es war sinnvoller, die Seite zu wählen, bei der ich meine Fähigkeiten am besten einsetzen konnte.“
„Und deine Mutter hatte nicht das Gefühl, ausgebootet worden zu sein?“
„Natürlich nicht – meine Gene stammen doch nur zur Hälfte von ihr. Aber da sie mich gleichermaßen erzogen hatte, musste mein Vater sie auszahlen, denn seine Familie profitierte von meiner Ausbildung und meinen Fähigkeiten.“
Dev blinzelte verständnislos. „Er hat dich ihr abgekauft?“
„Eine ganz normale Transaktion im Medialnet.“ Sie holte tief Luft. „Ganz ohne Emotionen, ein rein pragmatisches Geschäft. Kein Streit, keine Unstimmigkeiten. Alles ist in den Elternschafts- und Zeugungsverträgen genau festgelegt.“
Dev konnte sich ein solch kaltes Leben und solche kühl kalkulierten Beziehungen nicht vorstellen. „Dann musstest du also der Familie deines Vaters einen finanziellen Beitrag entrichten?“
„Ja. Es gibt einen zentralen Investmentfonds. Ich habe ganz gut verdient – wir hatten eine gute Anlagestrategie.“ Sie streckte die Beine aus und legte die Hände auf die Knie. „Ich frage mich, was sich durch meinen Tod geändert hat. Wahrscheinlich nicht sehr viel – meine Arbeit für den Rat hat meiner Familie zwar mehr Einfluss im Medialnet beschert, aber nur marginal. Mich zu verlieren, hat sicher keine großen Wellen geschlagen.“
Es machte ihn wütend, dass sie dabei so ruhig bleiben konnte. „Es wird aber ziemlich hohe Wellen schlagen, dass du noch lebst.“
Sie sah ihn überrascht an. „So kann man das vielleicht auch sehen. Kann ich dich fragen …?“ Sie zögerte.
„Was willst du wissen?“
„Etwas über deine Kindheit.“
Seine Hände umklammerten das Lenkrad. „Was denn?“ Seine Stimme klang rau wie Strandkiesel.
Sie schwieg etwa eine Minute. „Du willst nicht darüber reden.“
„Nicht heute.“ Überhaupt nicht, wenn er ehrlich war.
„Gibt es noch etwas anderes, das – ach, nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte nach deinen Schwächen fragen.“
„Kam die Frage von dir?“
Ihre Augen waren leer. „Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht.“
Während Dev und Katya immer tiefer in die Einöde von Alaska hineinfuhren,
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