Ruf der Vergangenheit
schon rabenschwarze Nacht. „Wir sind ganz nah.“
Er war fast schon entschlossen, weiterzufahren, aber als er noch einmal die undurchdringliche Dunkelheit und das immer stärker werdende Schneetreiben betrachtete, schüttelte er den Kopf. „Wir müssen warten, bis es hell wird. Sonst übersehen wir noch, wonach wir suchen.“
„Das werden wir sicher nicht.“ Sie ballte die Fäuste und schluckte. „Aber du hast Recht – vielleicht übersehen wir dann tatsächlich etwas. Schlafen werde ich nicht, aber wir können zumindest so lange warten, bis es nicht mehr schneit.“
Das taten sie. Dev checkte in einem der zwei Zimmer des Hotels ein und nahm sich ein paar Filme aus der großen Sammlung der nicht mehr ganz jungen Eigentümerin. Es waren kleine Disketten, nicht die weit teureren Kristalle, aber sie schienen in gutem Zustand zu sein. Nachdem Katya ihm die Wahl überlassen hatte, schob er eine in den Player und setzte sich auf das Bett, lehnte sich am Kopfteil an und streckte die Beine aus.
Katya stand am Fenster, eine einsame Gestalt in dunkler Nacht. Aber das war sie nicht mehr und würde es auch nie wieder sein.
„Komm her“, sagte er und hob den Arm.
Katya verließ ihren Wachposten am Fenster, durchquerte auf leisen Sohlen das Zimmer und schmiegte sich an ihn. „Was sehen wir denn?“, fragte sie, hielt aber immer noch Ausschau nach dem dunklen Viereck hinter der Fensterscheibe.
Er wusste nicht, ob es seinen oder ihren Fähigkeiten zuzuschreiben war, aber auch er fühlte, dass etwas Böses auf sie wartete. Er zog Katya noch näher an sich heran. „Schau nur, welches Opfer ich für dich bringe.“
Jetzt war ihre Neugierde geweckt und sie sah auf den Bildschirm. „Stolz und Vorurteil“, las sie laut. „Das hat ein Mensch geschrieben. Im 19. Jahrhundert, nicht wahr?“
„Mmmh.“
„Der Held heißt … Mr. Darcy?“
„Stimmt. Ti zufolge ist er der Inbegriff des perfekten Mannes.“ Dev riss eine Chipstüte auf und reichte sie Katya. „Na, ich weiß nicht – der Kerl trägt Strumpfhosen.“
„Still.“ Sie steckte sich ein paar Chips in den Mund. „Ich muss mich konzentrieren. Die Sprache ist so anders.“
Die Unruhe wich von ihr. Sie sah zwar noch öfter zum Fenster hin, aber sie lächelte ab und zu, und einmal lachte sie sogar. Etwa um drei Uhr morgens bemerkte sie: „Mr. Darcy ist fast ein Medialer, meinst du nicht?“
„Ich mache mir keine großen Gedanken um Mr. Darcy.“
Lachend legte sie ihm die Hand auf die Brust. „Ganz ehrlich, man könnte fast glauben, die Vorlage für diesen Mr. Darcy sei ein Medialer gewesen, denn damals waren wir noch nicht in Silentium. Die Medialen waren nicht anders als Menschen oder Gestaltwandler.“
Er dachte nach. „Die Vorstellung fällt mir schwer.“
„Dann guckst du nicht richtig hin – es gibt noch mehr mediale Charaktere in dem Film“, stellte sie fest. „Schau mal, das ist der Böse.“
Dass sie den Film Szene für Szene auf ihre wissenschaftliche Art analysierte, amüsierte ihn. Das Herz kam allerdings dabei auch nicht zu kurz. Am Ende des Films stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
Da konnte er nicht anders, er musste sie küssen, ihre Freude auf seinen Lippen schmecken. Denn sie würde nur allzu bald vergehen. Das Unvermeidliche näherte sich ihnen mit schnellen Schritten, er spürte es tief in den Knochen. Eine halbe Stunde später saßen sie bereits im Wagen auf dem Weg zu etwas, das sie beide eigentlich nicht sehen wollten … und dem sie doch nicht ausweichen konnten.
„Ich glaube, da vorne müssen wir rechts abbiegen.“
Er stellte keine Fragen und folgte ihrer Anweisung. Nach drei weiteren Stunden zeigte sich endlich das erste Morgenlicht, rosarot und orange leuchtete es im Osten. Ihr letztes Quartier war die letzte Spur zivilisierten Lebens gewesen. „Hast du jemals das Nordlicht gesehen?“, fragte er, während die Scheinwerfer sich automatisch den veränderten Lichtverhältnissen anpassten.
„Nein.“ Sie atmete aus. „Aber das würde ich gerne.“
„Vielleicht hast du Glück – wir sind nördlich genug und haben die richtige Zeit erwischt.“
„Hast du es schon gesehen?“
„Ja. Als wir noch Kinder waren, habe ich Michel oft hier oben besucht. Solange meine Mutter noch lebte.“ Es waren schöne Erinnerungen, die aber dennoch schmerzten. „Seine Mutter Cindee ist die Schwester meines Vaters.“ Cindee hatte ihn nach der Verhaftung seines Vaters aufnehmen wollen, aber er hatte den schuldbewussten Ausdruck
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