Ruf der verlorenen Seelen
und ihre Hoffnung schwand.
Natürlich. Das Mädchen, auf das er immer wartete. Violet
Ambrose.
Neid packte sie und breitete sich in ihrem Innern aus wie eine
Krankheit. Alle hatten ihr immer gesagt, wie hübsch sie sei,
aber was brachte ihr das? Sosehr sie sich bemühte, Jay schaute
sie doch niemals so an wie Violet.
Sie biss die Zähne zusammen und fragte sich, was Jay wohl
in diesem hohlen Mädchen sah, weshalb er sie überhaupt zu
seiner Freundin erkoren hatte. Sie sah aus wie ein Zombie, wie
eine wandelnde Tote. Ihre Haut war fahl, und ihr Gesichtsausdruck
⦠absolut nichtssagend.
Aber er schien das gar nicht zu merken. Er nahm Violet die
Schultasche ab, legte ihr den Arm um die Schultern und ging
mit ihr durch den Flur nach drauÃen.
In sicherem Abstand folgte sie den beiden bis zum Parkplatz,
sie tat ganz lässig, als wäre sie irgendeine Schülerin. So viele
waren um sie herum, dass es ganz leicht war, in der Menge unterzutauchen.
Sie zählte ihre Schritte, konzentrierte sich darauf, regelmäÃig
zu atmen und den Kopf gesenkt zu halten.
Eins.
Zwei.
Drei â¦
Als sie bei Jays Auto waren, ging sie langsamer. Sie schaute
zu, wie er die Tür öffnete und Violet hineinhalf. Ihr Magen zog
sich zusammen, als er sich zu Violet hinunterbeugte und sie
zärtlich auf die Stirn küsste. Sie fasste sich an die eigene Stirn,
die kalt war, und versuchte, sich wieder vorzustellen, wie es
wäre, an Violets Stelle zu sein.
Nur für einen Moment.
Für eine Woche.
Oder vielleicht sogar für immer.
6. Kapitel
Genau sechs Tage nach Violets anonymem Anruf wurde der
Junge nach Hause zu seiner Familie gebracht und beerdigt.«
Sechs Tage.
Sie konnte fast exakt sagen, in welchem Augenblick es geschah.
Auf einmal fühlte sie sich erleichtert, die Last fiel von
ihr ab. Wie eine verwunschene Prinzessin im Märchen, wenn
der Zauber durch den Kuss des Prinzen gebrochen wird. Nur
dass in ihrem Märchen der Kuss die Beerdigung eines kleinen
Jungen war.
Und da war es ⦠das Gefühl, dass die Geschichte ihren Abschluss
gefunden hatte.
Nur drei Tage später war sie wieder unter den Lebenden
und saà mit ihren Freundinnen in der Cafeteria wie ein ganz
normales Mädchen, das sie gern immer gewesen wäre. Nur Jay
war nicht da.
In letzter Zeit waren Jay und Mike unzertrennlich. Kurznach Violets Erlebnis in Seattle hatte es angefangen. Unzertrennlich
war vielleicht übertrieben, aber Violet kam es so vor.
Sie wollte nicht eifersüchtig sein. Schon gar nicht auf einen
Jungen.
Sie wusste nicht, warum es ihr trotzdem so viel ausmachte.
Natürlich durfte Jay seine eigenen Freunde haben und Violet
hatte nichts gegen Mike, er machte auf sie einen ganz netten
Eindruck, obwohl sie ihn noch nicht richtig kennengelernt
hatte.
Chelsea jedenfalls mochte ihn, sehr sogar. Das sprach immerhin
für ihn, und wenn es auch nur bedeutete, dass er rasend
gut aussah. Anscheinend fanden alle Mike toll.
Vielleicht war es das, vielleicht fühlte sie sich ausgeschlossen.
Während in der letzten Woche alle anderen Mike kennengelernt
und sich in ihn verliebt hatten, war Violet irgendwie â¦
abgemeldet.
Wegen ihrer anderen Freunde machte sie sich keine Gedanken.
Aber sie vermisste Jay. Sie wollte so gern mal wieder mit
ihm allein sein. Ãberall, wo er war, schien auf einmal auch Mike
zu sein.
Und wo Mike war, wollte auch Chelsea sein.
So kam es, dass sie immer zu viert zusammenhingen, und
Violet war das zu viel. Sie kam sich vor wie das fünfte Rad am
Wagen, die Einzige, die nicht auf Mike abfuhr.
Noch schlimmer wurde es für Violet, als sie merkte, dass sie
um Jays Aufmerksamkeit buhlte. Das hatte sie noch nie getan
und sie gefiel sich ganz und gar nicht in dieser Rolle.
Insgeheim hoffte sie darauf, dass Mike und Chelsea bald ein
Liebespaar wurden, damit Jay und sie nicht mehr so belagert
wären.
»Woran denkst du?«, fragte Jay, als er sich neben ihr niederlieÃ.
Sie blinzelte und fragte sich, ob sie genervt ausgesehen hatte.
»An gar nichts«, log sie und stocherte in ihrem Salat herum.
»Sah aber nicht so aus«, mischte Jules sich ein.
Violet schaute sie wütend an.
»Was denn?«, fragte Jay und stieà Violet mit der Schulter an.
»Sag schon.«
Violet zögerte, sie schämte sich plötzlich.
Ausgerechnet Mike rettete Violet, als er sich in eine Lücke
auf der anderen Seite des Tisches quetschte. »Hab ich was
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