Ruf der verlorenen Seelen
hatte ich noch nicht viel Text , dachte sie.
Der harte Schlag gegen das Fenster der Fahrertür war wie
eine Explosion für Violets Nerven. Sie zuckte zusammen und
schaute zur Seite.
Chelsea presste die Nase an die Scheibe, sodass ihr sonst so
hübsches Gesicht entstellt aussah. Violet konnte ihr fast in die
Nebenhöhlen gucken und darauf hätte sie gerne verzichtet.
Sie kurbelte das Fenster herunter. Chelsea wich zurück, bevor
ihr Gesicht verletzt wurde.
»'tschuldigen Sie die Störung«, sagte Chelsea, aber es schien
ihr kein bisschen leid zu tun. Sie schaute die Dame auf dem
Beifahrersitz respektlos an und redete einfach weiter, ohne eine
Antwort abzuwarten. »WeiÃt du, wo Mike hin ist?«, fragte sie
Violet. »Ich hab ihn überall gesucht. Er war nach der letzten
Stunde nicht an seinem Fach und die Dingsda hab ich auch
nicht gesehen, seine kleine Schwester.«
Violet verdrehte ungeduldig die Augen. »Gerade war er
noch an der Bushaltestelle.«
Chelsea seufzte. »Shit! Ich hätte ihn gern mitgenommen.«
So, wie sie mit den Augenbrauen wackelte, bedeutete »mitnehmen
« mehr als nur mitnehmen.
Violet grinste, als ein groÃer gelber Schulbus abfuhr. »Ich
glaub, du hast deine Chance verpasst, Chels.«
Jetzt standen nur noch vereinzelte Autos auf dem Parkplatz,
darunter das von Violet und Chelsea und ein groÃer schwarzer
Geländewagen, der offensichtlich der Frau neben ihr gehörte.
»Na ja.« Chelsea seufzte. »Dann bis morgen.«
»Tut mir leid«, murmelte Violet, als Chelsea weg war.
»Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen«, fuhr FBISara
fort, als hätte es gar keine Unterbrechung gegeben.
Violet schnürte es die Kehle zu. Dann mal los , dachte sie und
hoffte auf die altbekannten Fragen, die sie schon hundertmal
beantwortet hatte.
»Woher wussten Sie überhaupt, dass da eine Leiche war?«
Violet starrte sie an. Was sollte sie darauf sagen? Sara hatte
ihr keinen eindeutigen Hinweis gegeben, welche Leiche gemeint
war.
Violet dachte an die erste Tote, die sie letztes Jahr gefunden
hatte, die aufgedunsene Wasserleiche im See. Sie schloss die
Augen und versuchte zum x-ten Mal, das Bild zu löschen. Doch
es war zu klar, für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.
»Hab ich gesehen«, murmelte sie in der Hoffnung, dass die
Frau über die Tote von damals sprach.
Die Frau bewegte sich auf ihrem Sitz. »Sie haben ihn gesehen? «, fragte sie und schaute Violet misstrauisch an. »Wie meinen
Sie das, Sie haben ihn gesehen?«
Und da war es. Das eine Wort, das alles erklärte. Jetzt konnte
Violet sich nichts mehr vormachen.
Ihn , sie hatte ihn gesagt. Violet hatte daneben gelegen. Alle
Toten, die sie im letzten Jahr gefunden hatte, waren weiblich
gewesen.
Sie wussten Bescheid. Das FBI wusste Bescheid. Aber wie
war das möglich?
Sie schaute die Frau an. Sie hatte nur eine Chance, sie musste
sie davon überzeugen, dass das Ganze ein Irrtum war. »Ich â¦
ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Vielleicht bin ich
die Falsche.«
»Violet Ambrose? Das sind Sie doch. Sie haben vor knapp
zwei Wochen von einer Telefonzelle aus einen Notfall gemeldet.
« Sie schaute Violet wachsam an, ihre leicht zusammengekniffenen
Augen verrieten ihr Misstrauen. »Sie haben angegeben,
etwas gehört zu haben. Sie haben nichts davon gesagt, dass
Sie den Jungen gesehen hätten.«
Auf einmal stürzte alles auf Violet ein. Ihr schwirrte der
Kopf. Ihr war schwindlig und übel.
Sie machte die Augen zu und versuchte, das Schwindelgefühl
zu stoppen, damit sie einen klaren Gedanken fassen konnte.
Sie hatte gewusst, dass es ein Fehler war, den Notruf zu wählen.
Was hatte sie sich bloà dabei gedacht?
Aber sie hatte doch eine öffentliche Telefonzelle benutzt.
Dieses Gespräch hier dürfte gar nicht stattfinden.
»Ich weià nicht, wovon Sie sprechen«, sagte sie, doch ihre
Stimme klang blechern und hohl, sie konnte die Lüge selbst
hören. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Es war
ein Albtraum, fast so schlimm wie der Traum von dem Jungen.
Es blieb still und Violet versuchte, sich zusammenzureiÃen.
Sie musste raus aus dieser Geschichte, zur Not hinaus aus ihrem
Auto. Weg von der Frau, die sie aufgespürt hatte.
»Hören Sie, Ms Ambrose, Leugnen hat überhaupt keinen
Sinn. Sie wurden von den Ãberwachungskameras der
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