Ruf der verlorenen Seelen
sie konnte nicht. Ihre Stimme war
weg, sie fand keine Worte, ihre Gedanken hatten sich verirrt.
Sie wollte nicht an den Jungen denken. Nicht jetzt. Nie mehr.
Sie hatte so viel Zeit darauf verwendet, ihn aus ihren Gedanken
zu streichen, ihn zu verbannen, dass sie diese Tür nicht
wieder aufstoÃen wollte, nicht einmal Jay zuliebe.
Sie wusste nicht, weshalb er das wollte und warum er sie
darum bat.
Violet lehnte den Kopf zurück, suchte vergeblich nach den
richtigen Worten. SchlieÃlich schüttelte sie nur den Kopf. »Ich
kann nicht.«
Sie dachte, er würde widersprechen, versuchen, sie zu überreden.
Aber das tat er nicht. Natürlich nicht. Jay bedrängte sie
niemals, das wusste sie doch.
Er lächelte sein hinreiÃend schiefes Lächeln und ihr Herz
hämmerte wie verrückt. »Okay«, sagte er und drückte ihr
einen zarten Kuss auf die Stirn. Seine Hand wanderte über
ihre Hüfte, seine Fingerspitzen waren sanft und beruhigend.
So lagen sie da, in einer anderen Art Stille, sie schauten auf
den See und zu den Sternen, lauschten in die Nacht, genossen
die Wärme des anderen. Violet horchte auf das gedämpfte
Klopfen seines Herzens, bis ihr Atem ruhig und gleichmäÃig
wurde. Sie schmiegte sich in seine Umarmung. Er küsste sie,
diesmal zurückhaltender, vorsichtiger als vorhin.
Sie wollte den Abend nicht beenden, aber sie wusste, dass
einer von ihnen beiden es tun musste.
»Es wird langsam Zeit«, sagte sie und nahm ihr Handy aus
der Tasche, um zu gucken, wie spät es war. »Bis wir zu Hause
sind, ist es nach zehn.«
»Müssen wir wirklich?«, murrte Jay und hielt sie in seinen
Armen fest.
»Es sei denn, du hast eine bessere Idee«, sagte sie anzüglich,
nur halb im Scherz.
Aber sie wusste, dass Jay nicht darauf anspringen würde, sosehr
sie es sich auch wünschte. Stattdessen packte er die Sachen
ein, während Violet die Decken zusammenlegte. Dann trugen
sie alles zum Auto.
»Hast du was dagegen, wenn wir auf dem Rückweg bei Mike
vorbeifahren? Er hat mir heute Nachmittag bei den Einkäufen
geholfen und seinen Geldbeutel in meinem Wagen liegen lassen.
Ich bring ihn nur schnell vorbei.« Er stellte die Kühltasche
in den Kofferraum.
Violet seufzte, sie hätte diesen Abend so gern ohne einen anderen
verbracht. Das war doch nicht zu viel verlangt. »Kannst
du mich erst nach Hause bringen?«
Er sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. »Es liegt direkt
auf dem Weg«, sagte er. »AuÃerdem dauert es nur eine
Minute.«
»Na dann«, murmelte Violet. Sie knallte die Tür nicht zu,
aber sie hatte groÃe Lust dazu.
Sie fand es schrecklich, dass sie so empfand. Es war völlig
daneben, sich wegen eines kurzen Umwegs auf dem Rückweg von ihrem perfekten Date so anzustellen. Was war bloà in sie
gefahren?
Sie wusste, dass sie sich albern benahm, aber sie konnte nichts
dagegen machen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als
sie vor Mikes Haus hielten. Jay versprach, gleich wieder da zu
sein, doch sie würdigte ihn keines Blickes.
Jay, der überhaupt nicht verstand, weshalb sie so sauer war,
lieà sie im Wagen zurück, nahm die Verandatreppe in zwei Sätzen
und klopfte an die Tür. Als sie geöffnet wurde, verschwand
er im Haus.
Erst als Violet allein war, schaute sie sich um und sah das
verfallene kleine Haus, in dem Jays neuer Freund wohnte. Es
lag ganz einsam im Wald, an einer langen, unbefestigten Zufahrt.
Und es war dunkel, nur das Verandalicht durchbrach die
Finsternis, die über dem Grundstück lag. Hohe Bäume umgaben
das müde wirkende Haus. Die Farbe war verblichen und
blätterte schon ab, und an der wackligen Eingangstreppe lehnten
links und rechts rostige Fliegengitter. Alles zusammen, der
einsame Wald, das unheimliche Haus und die völlige Dunkelheit,
war so gruselig, dass Violet Gänsehaut bekam.
Aber Jay kam, wie versprochen, kurz darauf zurück, und Violet
war erleichtert, ihn zu sehen, obwohl sie sich fest vorgenommen
hatte, ihn weiter anzuschweigen.
Doch in dem Moment durchzuckte sie wirkliche Eifersucht.
Nicht Mike, sondern seine Schwester Megan steckte den Kopf
zur Tür heraus und winkte Jay nach. Sie sagte etwas, das Violet
nicht verstand, aber selbst durch die geschlossenen Fenster
konnte Violet den Ton hören, in dem sie sprach, und den hätte
sie immer und überall erkannt.
Denselben Ton hatte sie unzählige Male
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