Ruf der verlorenen Seelen
Priest?
Oh, Mist, Mist, Mist! , fluchte Violet innerlich.
Sie schaute die Frau an, während sie ihr abwesend die Hand
schüttelte, und betrachtete jedes Detail ihrer gepflegten Erscheinung.
Nicht nur das tadellose Kostüm und der perfekte,
glatte Pferdeschwanz, sondern auch ihr nüchternes Auftreten.
Sie strahlte eine Seriosität aus, die Violet nie zustande bringen
würde.
»Können wir uns unterhalten?«, fragte FBI-Sara, als Violet
nichts weiter sagte.
»Ja, klar.« Violet schaute sich um, weil sie sehen wollte, ob
jemand sie beobachtete. Sie suchte nach einer Ausrede, nach
irgendetwas, das sie davor bewahren könnte, jetzt dieses Gespräch
führen zu müssen.
Auf einmal war sie ärgerlich auf Jay, weil er arbeiten musste,
wütend, dass sie mit ihrem Wagen zur Schule gefahren war.
Und jetzt stand sie da, ganz allein. Mit Sara Priest vom FBI.
So ein Mist!
Auf dem Gehweg nahe dem Haupteingang der Schule sah
Violet Mike, der auf den Bus wartete. Er winkte ihr übertrieben
freundlich zu, sie musste an ein Hündchen denken. Sofort
bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so kindisch eifersüchtig
auf ihn war. Sie hob die Hand und winkte zurück.
Leider stand Lissie Adams direkt neben ihm und sah Violet
auch.
Lissie war alles, was Violet nicht war: blond, trendy und
wahnsinnig angesagt, und es hatte sie rasend gemacht, dass Jay
mit Violet zum Ball gegangen war und nicht mit ihr. Immer,
wenn Jay nicht dabei war, stänkerte sie gegen Violet.
Jetzt war so ein Moment. Lissie zeigte Violet einen perfekt
manikürten Mittelfinger.
Violet machte die Augen zu, sie war diese Beleidigungen so
leid.
»Sind Sie mit ihm befreundet?«, fragte die Frau mit einer
Kopfbewegung in Richtung Schule.
Violet seufzte. »Nein, das ist nicht meine Freundin.«
Die Frau lächelte. »Nicht das Mädchen. Der Junge, dem Sie
zugewinkt haben.«
»Sie meinen Mike?« Violet runzelte die Stirn. »Der ist neu
an der Schule.«
FBI-Sara spitzte die Lippen und wartete. »Was weiÃt du über
ihn?«
»Leider nichts. Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Violet
hoffnungsvoll. »Sind Sie deshalb hier? Wegen Mike Russo?«
Auf einmal fand sie es gar nicht so übel, über den Neuen an der
Schule zu sprechen.
»Nein«, sagte Sara Priest, ohne zu zögern. »Ich bin hier, um
über Sie zu sprechen, Ms Ambrose. Können wir?« Sie zeigte
auf Violets Auto. »Da sind wir unter vier Augen.«
Violet rutschte das Herz in die Hose. Sie war sich vage bewusst,
dass ihr keine Dienstmarke gezeigt worden war, und sie
wusste, dass ihre Eltern es nicht gutheiÃen würden, wenn sie
mit einer Fremden sprach â selbst wenn sie wirklich vom FBI
war. Doch sie brachte nicht den Mut auf, Nein zu sagen.
Ihr Herz klopfte heftig, als sie ins Auto stieg. Sie überlegte,
die Frau einfach nicht in den Wagen zu lassen und stattdessen
die Türen zu verriegeln und wegzufahren. Aber sie wusste, dass
das zwecklos war, denn die Frau hatte ja Violets Namen und
Telefonnummer. Sie wusste, auf welche Schule sie ging und
wahrscheinlich auch, wo sie wohnte. Es wäre naiv zu denken,
man könnte dem FBI entkommen.
Also entriegelte sie die Beifahrertür und vergewisserte sich
schnell, dass auf dem Sitz nichts herumlag, was einen groÃen
hässlichen Flecken hinterlassen könnte. Ihre Rostkarre sollte
der Frau ja nicht das Kostüm ruinieren.
Violet fragte sich, ob der dunkelhaarige Junge wohl mit ins
Auto kommen würde, aber er rührte sich nicht. Er stand nur
da und starrte stumm auf die Beifahrertür.
Seltsam, dachte Violet, als sie den Motor anlieÃ, damit es
warm wurde. Sie hoffte allerdings, dass das Gespräch beendet
sein würde, bevor sich der Wagen aufheizte.
»Sie möchten bestimmt wissen, weshalb ich hier bin.«
»Hm-hm.« Selbst das unartikulierte Gemurmel schien zittrig
aus ihrem Mund zu kommen. Hoffentlich musste sie nicht
viel sagen.
»Die Sache ist die: Bei einer Ermittlung ist Ihr Name aufgetaucht.« Die Frau wischte sich einen unsichtbaren Fussel vom
Knie, bevor sie Violet anschaute.
Violets Herz schlug heftig.
Es könnte so oder so sein. Mit der einen Variante könnte sie
umgehen, mit der anderen nicht. Ganz und gar nicht.
Vielleicht hatten sie ja noch ein totes Mädchen irgendwo im
Wald gefunden.
Aber auf so etwas Entsetzliches konnte sie nun wirklich nicht
hoffen.
»Hm-hm â¦Â« Bisher
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