Ruf der verlorenen Seelen
aufzukreuzen.
Wütend wusste sie, was sie zu tun hatte. Je eher, desto besser.
Sie klappte den Karton zu und versuchte, das kleine Wesen
dabei nicht mehr zu stören als nötig. Das arme Ding hatte
schon genug durchgemacht.
Violet flüsterte vor sich hin, so leise, dass niemand es hätte
hören können, selbst wenn sie nicht allein gewesen wäre.
»Müde bin ich, geh zur Ruh â¦Â« Dieses Gebet hatte sie für
jedes Tier gesprochen, das sie beerdigt hatte.
Mit dem Karton in den Händen ging sie unter dem bleichen
Mond, den sie gar nicht brauchte, damit sie den Weg am Haus
entlang in den Wald fand.
»SchlieÃe meine Augen zu â¦Â« Es war das einzige Gebet, das
sie kannte.
Das Licht explodierte unter den Klappen des Wellkartons
und drang durch die Ritzen.
»Vater lass die Augen dein â¦Â«
Sie kam zu dem dunklen Eingang ihres Friedhofs, den ihr
Vater gemeinsam mit ihr angelegt hatte, als sie noch ein kleines
Mädchen war. Schattenfeld. Und jetzt, mitten in der Nacht,
schien der Name passender zu sein denn je. Eine Art Omen.
Doch sie hatte keine Angst. Nicht hier.
Sie hörte das vertraute weiÃe Rauschen der vielen toten
Tiere, die sie gerufen hatten, ein friedlicher Nachhall, nachdem
sie ihre Körper zur Ruhe gebettet hatte.
Sie stieg über den Maschendraht, der Aasfresser fernhalten
sollte. Neben einer Stelle, die schon ausgehoben war, kniete
sie nieder. Ein kleines Grab, das wartete. Auf Violets Friedhof
war immer ein Grab bereit.
Sie schauderte, als sie den Karton öffnete, die Kälte lieà sich
nicht ignorieren.
»⦠über meinem Bette sein.«
Sie kippte den Karton und lieà das kleine steife Wesen sanft
in die weiche Erde gleiten. Sie biss sich auf die Lippe, versuchte,
nicht daran zu denken, wie das Tier ums Leben gekommen war.
Hielt die Tränen zurück, als noch ein weiÃer Blitz durch die
Nacht zuckte.
Dann schaufelte sie mit den Händen die Erde, die neben
dem Grab bereitlag, auf die leblose Katze.
Amen . Sie formte es nur mit den Lippen.
Als sie fertig war, hockte sie sich hin. Sie spürte, wie sich ein
friedliches Gefühl in ihr ausbreitete.
Die Katze fand Erlösung ⦠und gab Violet Erlösung.
Violet nahm den Karton, und ohne sich noch einmal umzuschauen,
lief sie zurück zu ihrem Haus. Die leere Schachtel lieÃ
sie drauÃen, als sie die Tür hinter sich zumachte, dann ging sie
in ihr Zimmer.
Schnell wusch sie sich und zog sich um, damit sie das verstörende
Gefühl loswurde, das sie immer noch begleitete und
sie noch zittern lieÃ, nachdem sie die winterliche Kälte längst
hinter sich gelassen hatte. Die beunruhigende Erkenntnis, dass
ihr heute Nacht jemand eine Botschaft überbracht hatte.
Aber was war die Botschaft?
Und wer hatte sie überbracht?
Zorn
Das Mädchen stand im Schatten der Bäume und beobachtete
Violet. Jetzt war sie froh, dass sie schwarze Sachen angezogen
hatte â eine dicke schwarze Jacke, Skimaske, dunkle Handschuhe
â nicht nur der Kälte wegen, sondern auch zur Tarnung.
Sie hatte gar nicht geplant, sich in den Bäumen zu verstecken,
eigentlich wollte sie nur schnell hin und wieder zurück.
Ihr Mitbringsel dalassen und wieder verschwinden.
Doch dann war Violet völlig überraschend nach drauÃen gekommen,
mitten in der Nacht. Und in dem Moment hatte das
Mädchen sich nicht von der Stelle gerührt. Sie konnte kaum klar
denken.
Sie hatte Angst gehabt, dass Violet sie entdecken würde. Aber
das war nicht passiert.
Violet hatte ein anderes Ziel, sodass sich das Mädchen tiefer
im Wald verstecken und Violet von dort aus in aller Ruhe beobachten
konnte.
Bevor Violet auftauchte, hatte sie Angst gehabt, dass sie zu
weit ging. Dass die Botschaft zu brutal war. Doch als sie Violet
sah und sie beobachtete, geriet sie wieder in Rage. Ihre Wut war
unerklärlich ⦠unbeherrschbar.
Sie begriff nicht, woher Violet wusste, wo sie suchen musste,
aber irgendwie fand sie die Kiste. Und als Violet zu den Bäumen
schaute, in ihre Richtung, da hatte sie sich auf dem Boden
zusammengerollt, die Arme um den Körper geschlungen und
darauf gewartet, dass Violet sie fand.
Aber nichts geschah.
Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass Violet überhaupt nicht
so reagierte wie erhofft. Statt Angst zeigte sie Wut. Anstatt sich
vor der toten Katze zu ekeln, wirkte sie ruhig.
Da dachte sie, dass sie weiter hätte gehen sollen. Noch
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