Ruf der verlorenen Seelen
wollte sie wieder erleben. Sie wollte sich wieder so fühlen,
ein Ziel für ihre Gabe haben.
Sie wollte sich nicht mehr verstecken, keine Geheimnisse
mehr haben, jedenfalls nicht vor den Menschen, denen sie vertraute.
Vielleicht hatte Rafe recht, vielleicht war Sara Priest die Lösung.
Es sei denn, sie hätte das Interesse an Violet verloren und
wäre es leid, auf ihre Entscheidung zu warten.
Doch darüber konnte Violet sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.
Sie musste erst über etwas anderes nachdenken.
Zum Beispiel darüber, wem sie eigentlich vertrauen konnte.
Nach der letzten Stunde wartete Violet so lange wie möglich,
bevor sie sich in die fast verlassenen Flure und dann hinaus
auf den Parkplatz wagte. Es war still, beinahe unheimlich still,
aber das war ihr immer noch lieber als durch Schülergruppen
laufen zu müssen.
Allein bei der Vorstellung, sie könnte mit Megan zusammenstoÃen
oder sie auch nur vorbeigehen sehen, stellten sich ihr die
Nackenhaare auf.
Als jemand ihren Namen rief, ein Mädchen, bekam sie weiche
Knie. Bis sie den rauen Ton erkannte.
Ohne sich umzudrehen, lächelte sie in sich hinein und wartete
auf Chelsea.
»Hey, hast du mich nicht gehört? Warum hast du's denn so
eilig?«, beschwerte sich Chelsea übertrieben atemlos. Dann
vergaà sie auf der Stelle, dass sie sauer war. »Es macht dir doch
nichts aus, mich mitzunehmen, oder? Heute Morgen bin ich
mit Jules gekommen, aber sie bleibt noch in der Schule, weil sie mit Claire an ihrem Bioprojekt sitzt, und ich hab keine Lust,
mit den beiden in der Bücherei zu hocken. AuÃerdem weiÃt du
ja, dass Mrs Hertzog mich auf dem Kieker hat. Sie würde die
ganze Zeit sagen, ich soll die Klappe halten.«
»Ach was«, sagte Violet und versuchte, ernst zu bleiben. »Zu
dir doch nicht, Chels. Du bist doch immer ganz still.«
»Die spinnt einfach.« Chelsea steckte die Hände in die Taschen
und zuckte gleichmütig die Achseln, während sie neben
Violet herging. Dann riss sie die Augen auf. »Ach, das hätte
ich ja fast vergessen.« Sie holte einen gefalteten Zettel aus der
Tasche und reichte ihn Violet. »Jay hat mich gebeten, dir den
zu geben.«
Violet sah ihren Namen in Jays Handschrift, und ihr Herz
zog sich zusammen. Am liebsten hätte sie den Zettel gar nicht
angenommen. Sie steckte ihn in die Tasche.
Chelsea legte ihre Flapsigkeit ab und beugte sich zu Violet,
fast so, als hätte sie Angst, jemand anders könnte diese Seite
ihres Wesens sehen. »Vielleicht hilft es dir, wenn ich verrate,
dass er in letzter Zeit rumgelaufen ist wie ein TrauerkloÃ.«
»Wovon redest du, Chels?«
Chelsea blieb stehen und starrte Violet an.
»Von Jay. Ich rede von Jay, Violet. Ich dachte, es interessiert
dich vielleicht, dass du nicht die Einzige bist, die leidet. In
der Schule ist er mit einer Jammermiene rumgelaufen, dass es
kaum zum Aushalten war. Er ist echt total fertig.« Genau wie
neulich abends in Violets Zimmer lag so etwas wie Mitleid in
ihrem Blick.
Violet wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.
Zum Glück hielt der mitfühlende Ausdruck auf Chelseas
Gesicht nicht lange an. Als würde ein Schalter umgelegt, war sie plötzlich wieder ganz die Alte. »Ehrlich, immer wenn ich
ihn sehe, hab ich Angst, er fängt an zu heulen wie ein Mädchen
oder fragt mich, ob ich ihm einen Tampon leihen kann oder so.
Es ist echt schlimm. Nur du kannst das beenden, Violet. Bitte
tu etwas!«
Gegen ihren Willen musste Violet über das absurde Bild, das
Chelsea von Jay zeichnete, schmunzeln. Sie lachte sogar, obwohl
sie wusste, wie unreif sie sich benahm.
Aber sie wollte nicht mit Chelsea darüber reden. Nicht mal
mit der freundlicheren, einfühlsameren Chelsea. »So schlimm
wird es schon nicht sein, Chels. Und wenn doch, wird er drüber
hinwegkommen.«
Chelsea schüttelte nur den Kopf. »Jedenfalls ⦠wenn du
mich brauchst, ich bin für dich da.«
Violet hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht darauf
einging. Wenn sie doch über das sprechen könnte, was passiert
war. Wenn sie Chelsea alles erzählen könnte, von ihrem Streit
mit Jay, von Megan und davon, was sie in jener Nacht in Mikes
Haus gesehen hatte. Aber es ging nicht. Es hing alles zu sehr
mit ihrer Gabe zusammen.
Also schwieg sie und versuchte, Chelseas enttäuschte Miene
zu übersehen.
Als Chelsea merkte, dass sie bei Violet nicht
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