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Ruf der verlorenen Seelen

Ruf der verlorenen Seelen

Titel: Ruf der verlorenen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derting Kimberly
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sie sich die Hände abtrocknete, nahm ihr Bruder
den Müllbeutel. »Leg du dich mal schlafen.« Sein Lächeln war
aufrichtig, vielleicht sogar warm. »Ich räume hier weiter auf
und schalte das Licht aus.«
    Sie widersprach nicht, sie nickte und ging durch den Flur
zurück in ihr Zimmer. Vorsichtig setzte sie jeden ihrer Schritte
auf den Boden, um ihren Vater nicht zu wecken.

22. Kapitel

    Am nächsten Tag ging Violet wieder zur Schule. Sie
wusste, dass es nicht leichter würde, wenn sie noch länger zu
Hause blieb. Irgendwann musste sie es hinter sich bringen.
Aber sich dort zu bewegen, unter einem Dach mit Jay, das kam
ihr vor wie ein sorgfältig einstudierter Tanz. Zumal sie ja nicht
nur Jay aus dem Weg gehen musste.
    Mit Megan hatte Violet bisher nichts zu tun gehabt, sie gingen
in unterschiedliche Klassen. Doch jetzt war sie sich bewusst,
dass sie ihr jederzeit begegnen könnte, dass sie ihr irgendwann,
wenn sie am wenigsten damit rechnete, in die Arme
laufen könnte.
    Mit Jay war es etwas ganz anderes. Sie konnte ihm nicht
ganz aus dem Weg gehen, zumal sie einige Fächer zusammen
hatten. Aber Violet tat alles, um ihn so wenig wie möglich
sehen zu müssen.
    Sie kam früh zum Unterricht und tauschte ihren Platz mit jemand anders. Sie erntete befremdete Blicke – doch niemand
beschwerte sich, jedenfalls nicht laut.
    Violet fühlte sich trotzdem unwohl. Sie spürte, dass er zu ihr
hinschaute und hoffte, dass sie reagierte.
    Und es war schwer, ihn zu ignorieren. Violet hätte so gern
einen kleinen Blick zu ihm riskiert. Aber sie wusste, er wartete
nur darauf, dass sie sich verriet.
    Zwischen den einzelnen Stunden war es noch schwieriger,
und nach der Vierten fing er sie im Flur ab. Es war so schwer,
ihn zu sehen und kühl zu bleiben, während er so ernst und aufrichtig
wirkte. Seine Augen waren müde und rot, und er wirkte
schon niedergeschlagen, ehe er den Mund aufmachte.
    Â»Violet, bitte … rede mit mir.«
    Wenn es schwer gewesen war, ihn zu sehen, so war es absolut
unerträglich, seine Stimme zu hören. Sie war rau und gefühlvoll.
Er klang so elend.
    Wie sie.
    Aber sie musste stark sein. »Jay, lass das. Ich will echt nicht
mit dir reden. Lass mich einfach in Ruhe.« Sie hätte gern
»bitte« gesagt, wollte ihn darum bitten wegzugehen, falls sie
es nicht über sich brachte, selbst zu gehen, doch sie hatte Angst
vor diesem Wort. Es war zu weich, und es könnte zu viel von
dem preisgeben, was sie in diesem Moment empfand.
    Violet drehte sich um und ging. Sie schaute Jay nicht mehr
an, ließ ihn einfach stehen. Doch sie wusste, dass er ihr nachsah,
und am liebsten wäre sie zu ihm gegangen und hätte alles
zurückgenommen.
    Sie hätte ihm gern gesagt, dass es egal war, was er glaubte,
weil sie ihn liebte. Und weil sie ihn brauchte.
    Aber das konnte sie nicht. Denn es war nicht egal.
    Die Mittagspause verbrachte Violet allein in ihrem Wagen, um
Jay nicht noch mal zu begegnen.
    Zum tausendsten Mal schaute sie auf ihrem Handy nach, ob
Sara Priest angerufen hatte, und war enttäuscht, als sie sah, dass
sie keine neuen Nachrichten bekommen hatte.
    Ein bisschen, ein klitzekleines bisschen hoffte sie, Sara hätte
sie noch nicht ganz aufgegeben.
    In den letzten Tagen hatte Violet Zeit gehabt, über alles
nachzudenken, unter anderem darüber, wie Sara Priest in ihr
Leben getreten war – nämlich dadurch, dass Violet einen toten
Jungen gefunden hatte. Und auf einmal schien alles klarer zu
sein. Das hätte sie fast erschrecken können, weil ihr Leben zurzeit
so chaotisch verlief. Aber ihr kam jetzt alles ganz logisch
vor.
    Ihr Verhalten in den letzten Monaten: dass sie sich zurückgezogen
und Jay, ihre Familie und ihre Freunde auf Abstand
gehalten hatte.
    Sie hatte solche Angst gehabt, irgendjemand könnte ihretwegen
in Schwierigkeiten geraten.
    Aber jetzt verstand sie, dass es nicht ihre Schuld war. Sie
konnte gar nicht anders. Sie hatte diese Gabe und konnte nicht
so tun, als gäbe es sie nicht.
    Violet wollte diesen Teil ihrer Persönlichkeit nicht länger
verleugnen. Sie hatte immer gedacht, dass mit ihr etwas nicht
stimmte, aber so war es nicht. Ihre Gabe könnte sogar nützlich
sein. Sie war nützlich.
    Sie erinnerte sich daran, wie es ihr damals gegangen war, als
sie nach dem Serienkiller gefahndet hatte. Da hatte sie ein Ziel
gehabt.
    Sie hatte sich gut gefühlt. Wichtig. Lebendig.
    Das

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