Ruf der verlorenen Seelen
und klappte den
Rahmen auf. Als sie die Fotos darin sah, erstarrte sie.
Sie waren von Jay.
Das Geschenk. Er musste es bei ihrem Onkel abgegeben
haben.
Sie fühlte sich elend. Sie hasste ihn dafür, dass er sie so
durcheinander brachte.
Die Bilder stammten aus der zweiten Klasse, eins von ihr und
eins von Jay. Das Foto von ihm hatte immer zu ihren Lieblingsbildern
gehört, vor allem, weil sie für seine Frisur verantwortlich
war.
In dem Jahr hatte der Fotograf an alle Kinder kleine schwarze
Kämme verteilt, und Violet hatte beschlossen, Jay »schön zu
machen«. Sie war mit ihm zum Brunnen gegangen, hatte seine Haare nass gemacht und ihm dann einen krummen Scheitel gekämmt.
Sie war ganz stolz auf ihr Werk gewesen.
Als sie jetzt das Foto anschaute, auf dem er seine brandneuen
riesengroÃen Zähne und dazu diese alberne Frisur hatte, sah
sie, was sie angerichtet hatte.
Es sah wirklich witzig aus.
Doch das spielte keine Rolle. Zu jedem anderen Zeitpunkt
wäre es ein süÃes, aufmerksames Geschenk gewesen. Aber nicht
jetzt.
Das Geschenk änderte überhaupt nichts.
Er vertraute ihr nicht. Er glaubte ihr nicht. Allein das zählte.
Das konnte er nicht rückgängig machen, indem er ein Geschenk
ablieferte, selbst wenn es ein so schönes war.
Es war in diesem Moment sogar ein ganz besonders schlimmes
Geschenk. Ein passendes Ende für den schrecklichsten
Geburtstag, den Violet je erlebt hatte. Sie steckte den Bilderrahmen
und das Seidenpapier wieder in die Tüte, stellte sie zusammen
mit dem Rest Torte auf die Anrichte und stakste die
Treppe hinauf.
Dieser Idiot.
Gerade als es ihr wieder etwas besser ging, musste er kommen
und alles zunichte machen.
Träge
Die Stille kam. Sie war der Vorbote ihrer liebsten Zeit in der
Nacht.
Fast lautlos schlich sie aus ihrem Zimmer, die alten Dielen
knackten gelegentlich, doch sie hatte gelernt, wo sie auftreten
musste, um ein allzu lautes Geräusch zu vermeiden. Im Haus
war es dunkel, so wie sie es gern hatte. Und leise.
Ãberall im Wohnzimmer stand dreckiges Geschirr herum
und auf fast jeder Ablagefläche lagen Zeitungen. Saubere und
schmutzige Wäsche war auf dem Boden verstreut, und der
Couchtisch vorm Fernseher stand voller Flaschen.
Schnell sammelte sie die Zeitungen ein, trug Geschirr und
leere Flaschen in die Küche, hob den Müll auf und legte die
Wäsche zusammen.
Sie atmete durch den Mund, weil sie den säuerlichen Geruch
des billigen Whiskeys nicht riechen wollte. Er vermischte sich
mit dem Zigarettengeruch, der an allem hing, was ihr Vater berührt hatte. Sie schüttelte sich bei der Vorstellung, dass diese
Gerüche, seine Gerüche sie berührten.
Sie ermahnte sich, nicht darauf zu achten. Je eher sie fertig
war, desto schneller konnte sie wieder zurück ins Bett.
Sie hörte, wie im Flur eine Tür aufging. Ihr stockte der Atem,
ihr Herz vergaà zu schlagen. Schritte tappten über die Dielen,
nicht so vorsichtig wie ihre. Bei jedem Knacken zuckte sie zusammen.
»Was machst du da?«, murmelte ihr Bruder mit verschlafenen
Augen. »Das hat doch Zeit bis morgen früh.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihm nicht die Wahrheit
sagen: dass sie das viel lieber machte, wenn ihr Vater nicht da
war. Am Morgen konnte es passieren, dass sie ihm über den Weg
lief. Dass sie ihn sehen und mit ihm reden musste. »Ich konnte
nicht schlafen«, log sie.
»Dann helf ich dir«, sagte er, räumte die Anrichte ab und
trug das restliche Geschirr in die Küche.
Sie erwog, offen mit ihrem Bruder zu sprechen, ihn zu fragen,
wie er diese nutzlose Version eines Vaters ertrug. Wie er das
alles aushielt.
Aber sie kannte die Antwort: Er war stärker als sie, das war
er immer schon gewesen. Schon als sie klein waren, war sie
immer diejenige gewesen, die stolperte und hinfiel, die jemanden
brauchte, der sie aufhob und saubermachte. Sie hatte die
Mutter gebraucht.
Er war immer unabhängig gewesen, wild entschlossen, alles
allein zu schaffen. Er war pfiffig, gesellig und robust. All das,
was sie nicht war.
Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt merkte, dass ihre
Mutter nicht mehr da war. Dass ihr Vater nicht mehr derselbe war. Und dass sie Schaden genommen hatte ⦠dass sie am
Ende war.
Sie hätte gern mit ihm geredet, aber sie tat es nicht, weil sie
nicht zugeben wollte, wie schwach sie war.
Anstatt zu reden, wusch sie schweigend das Geschirr ab.
Während
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