Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
richtete einen Dolch auf mein Herz. Ihre Augen glühten rot in der leuchtenden Finsternis, die uns umgab. Sie redete weiter, lauter jetzt. Ich verstand die Worte nicht, meine Kehle war wie zugeschnürt. Sollte ich nun doch hier sterben? Sie kam immer näher, und Lilly hielt mich erbarmungslos fest.
Meine Mutter würde mich töten.
Als sie direkt vor mir stand, riss sie die Arme in die Höhe. Ein lauter klarer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Dann ergriff sie den Dolch mit beiden Händen. Ich sah die Klinge, wie sie die Luft durchschnitt. Und dann der Schmerz, als sie ins Herz drang. Ich hatte einen Schrei auf den Lippen, der ungehört blieb. Fühlte den Schmerz in meiner Brust, obwohl es nicht mein Fleisch war, durch das der Dolch schnitt, sondern das ihre. Langsam zog sie ihn aus der Wunde, ließ ihn fallen. Sie tauchte ihre Finger in das Blut und zeichnete damit etwas auf meine Stirn. Dann sank sie vor meinen Füßen nieder. Ich wollte mich zu ihr beugen, doch Tante Lilly riss mich zurück.
„Nein! Geh jetzt, schnell. Ins Licht. Joanna geht es gut. Glaub mir. Aber beeil dich, sonst war ihr Opfer umsonst.“
Welches Opfer? Warum ein Opfer, wenn es ihr doch gut ging? War sie tot? Natürlich war sie tot. Sie war seit über zwanzig Jahren tot. Konnten Tote sterben?
Ich rannte. Meine Gedanken überschlugen sich, aber ich rannte auf das Licht zu. Es strahlte warm aus diesem Nichts heraus. Und es umfing mich, sobald ich mich ihm näherte. Es war das gleiche Licht wie damals in der Felsenhöhle im Wald. Wie lange ich rannte, wusste ich nicht. Meine Lungen brannten, meine Kehle war trocken, das Blut meiner Mutter auf meiner Stirn machte mich benommen. Dann fiel ich ins Bodenlose. Freier Fall. Aber ich hatte keine Angst. Das Licht war um mich.
Die Göttin war da. Sie fing meinen Fall ab. Ich sank wie eine Feder zu Boden. Fruchtbare, warme Erde.
„Willkommen, Melissa.“
„Große Mutter!“
Ich versuchte aufzustehen. Wollte mich vor ihr verbeugen, um ihr zu huldigen, doch mir fehlte die Kraft.
„Bleib liegen, mein Liebes. Es ist nicht nötig vor mir zu knien. Oder demütig zu sein. Bleib liegen und ruh dich aus.“
„Aber Tante Lilly sagte, ich muss mich beeilen, weil … “
„Du bist jetzt nicht mehr in der Gegenwelt. Du bist jetzt bei mir. Hier steht die Zeit still“, erklärte die Göttin. „Es besteht also kein Grund mehr zur Eile.“
„Meine Mutter?“
„Es geht ihr gut“, beruhigte sie mich.
„Tante Lilly sprach von einem Opfer.“
„Ja, das Opfer eines Lebens. Wie du weißt, lebt jede Seele mehr als ein Leben. Deine Mutter hat freiwillig ihr letztes geopfert, damit du leben darfst. Aber das Opfer ist ihr nicht schwer gefallen. Du bist ihre Tochter. Sie gebar dich aus einem bestimmten Grund. Und dein Schicksal ist noch nicht erfüllt. Abgesehen davon ist sie sehr glücklich hier.“
„Warum sollte ich sterben?“
„Scht! Schlaf jetzt. Wenn du wieder bei Kräften bist, werde ich es dir erzählen. Und dich zurückbringen.“
Ich spürte, wie sie mir das Amulett abnahm, das ich damals in der Felsenhöhle von ihr bekommen hatte. Es hatte seine Aufgabe erfüllt. Mich beschützt und hierher geführt. Jetzt wurde es nicht mehr benötigt. Ich würde ein anderes bekommen. Schlafen, der Gedanke war so süß, so verlockend. Ich hörte Musik. Leise, einschläfernde Musik. Dann war alles still und friedlich. Ich berührte das Ankh um meinen Hals, das die alte Wahrsagerin mir gegeben hatte. Es war noch da. Die Göttin hatte es nicht zusammen mit meinen Amulett abgenommen. Ich konnte schlafen, das Ankh würde mich beschützen. In den Armen der Göttin war ich ohnehin sicher vor allem Bösen.
„Melissa!“
„Mama!“
„Melissa, mein Schatz.“
„Ja, Mama, ich bin doch hier.“
Langsam hob sich der Schleier der Träume, und ich wurde wach. Es war ihre Stimme, aber sie war es nicht, die sprach. Als ich die Augen aufschlug, bekam die Stimme einen anderen Klang.
„Melissa, du bist nun ausgeruht. Es wird Zeit, zurückzugehen.“
„Ashera!“
„Ja, mein Liebes, ich bin es.“ Da stand sie vor mir. Meine Göttin. Die zum Leben erwachte Statue aus dem Heiligtum der Ashera.
„So, wie du mich siehst, so wie du mich verehrst. Aber das alles ist ohne jede Bedeutung. Es soll es nur ein wenig leichter für dich machen. Und nun, lass mich dir erklären, was geschehen ist, seit du hierher gekommen bist.“ Sie nahm Platz auf etwas, das wie eine Wolke aussah. Ich setzte mich neben sie. Weich,
Weitere Kostenlose Bücher