Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
Tagen nicht besser werden. Aber die Ängste derer, die mich behandelten und versorgten, mir zweimal täglich eine der Phiolen einflößten und meinen Körper immer wieder mit kaltem Wasser abwuschen, bedeuteten mir nichts. Ich nahm nichts davon wahr. Ich hatte das Gefühl, in einem Ozean zu treiben, von den Wellen getragen, irgendwo im Nirgendwo. Ich hörte Osira leise heulen, so als säße sie am weit entfernten Strand, während ich Meilen vor der Küste dahintrieb. Angst zu ertrinken hatte ich nicht. Sterben erschien mir gar nicht so furchtbar, während ich dahintrieb. Aber mir wurde immer wieder übel. Kann man in seinen Träumen seekrank werden? Man kann.
Woher wusste ich eigentlich, dass ich träumte? Aber natürlich, weil meine Mutter da war. Und meine Mutter war tot. Ich sah sie mit anderen zusammen in einem Kreis aus Palmen stehen. Palmen? Mitten im Meer? Ich blickte an mir hinunter. Ich war nicht mehr im Wasser. Ich stand auf festem Boden. Der Göttin sei Dank, dann würde auch die Seekrankheit nicht wiederkommen. Osira war an meiner Seite. Ich näherte mich den Frauen. Sie standen im Kreis um ein großes Feuer. Alle fassten sich an den Händen. Alle trugen lange weiße Gewänder, die mit einem roten Band um die Taille gegürtet waren. Lilly stand direkt neben meiner Mutter. Ihr langes blondes Haar wehte im Wind. Die helle durchscheinende Haut ließ sie zerbrechlich wirken. Viel zerbrechlicher als vor wenigen Tagen in der Gegenwelt. Meine Mutter sprach Worte in einer uralten Sprache, aber ich verstand jedes Wort. SOMMER.
Die Flammen stoben hoch empor, und ich sah die Energie, die sich in einer hellblauen Spirale daraus hervorwand. Ich beobachtete den Weg der Spirale. Sie erhob sich in den Himmel und floss durchs nachtschwarze Firmament.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich dem Fluss der Energien am Boden gefolgt war. Erst als ich wieder auf die Erde zu meinen Füßen blickte, sah ich, dass ich nicht mehr am Rande des Palmenkreises stand. Aber ich kannte den Ort. Ich kannte ihn nur zu gut. Der Ritualplatz hinter Großmutters Haus. Wie oft hatte ich Margret Crest hier bei ihren Ritualen zugesehen. Wie viele hatte ich selbst hier gewirkt. Besonders in diesem letzten Sommer nach meinem Examen. Hier hatte ich gelernt, mit den Energien umzugehen. Sie zu kanalisieren und für mich nutzbar zu machen. Und jetzt sah ich sie. Die Hohepriesterin, die vorgegeben hatte, mich zu lieben und zu schützen. Die mir Lehren erteilt hatte, ohne selbst daran zu glauben. Aber das war ihr Fehler gewesen, denn ich hatte gelernt, an eben diese Lehren zu glauben. Mörderin meiner Mutter, Räuberin meiner Lebenskraft. Ich würde ihr die Stirn bieten. Ich würde mich nicht von ihr bezwingen lassen. Dem ersten Impuls folgend, wollte ich auf sie losstürmen. Sie angreifen. Sie verletzen und besiegen. Doch meine Füße gehorchten mir nicht. Ich fühlte mich festgewachsen am Boden und konnte nicht näher an sie heran.
Vielleicht mein Glück, denn sie sah mich nicht. Ihr Gesicht war hassvoll verzerrt. Auch sie war nicht allein. Zwölf weitere Frauen, alle ebenso wie sie in grelles Rot gekleidet. Die Farbe wirkte bedrohlich, als solle sie warnen. Die Kraft, die sie beschworen, war von dunklem Purpur, kaum zu sehen in der Schwärze der Nacht. Keine Spirale, sondern eine Kreatur. Ich sah Krallen, ich sah Zähne, ich sah glühende Augen. Kein Mensch könnte sich je vorstellen, wie diese Kreatur aussah. Bedrohlich, gefährlich, tödlich. Ein Werkzeug ihrer Macht. In ihrer Hand hielt sie eine Puppe, an deren Kopf sie Haare aus meiner Kinderzeit befestigt hatte. Die Puppe, die meinen Tod symbolisierte, wenn sie sie den Flammen übergab. Auch ihre Sprache war längst vergangen, längst vergessen. Doch ich verstand jedes Wort, das sie sprach. Jede Silbe ein glühender Dolch in meinen Eingeweiden. Ich wollte nicht abwarten und zusehen, wie sie die Puppe ins Feuer warf. Das hätte ich nicht ertragen. Meine eigene Angst hätte mich getötet. Margret Crest wollte nicht länger meine Rückkehr, sie wollte nur noch meinen Tod. WINTER.
Die purpurne Bestie aus Rauch stürzte sich in die Nacht. Geradewegs auf die Spiralenergie des Hexenzirkels zu, den meine Mutter leitete. Es würde ein Kampf zwischen dem Zauber meiner Mutter und dem der Hohepriesterin werden. Und der Ausgang würde für mich über Leben und Tod entscheiden. Aber so hilflos wollte ich nicht sein. Wild entschlossen blickte ich mich um. Ich rannte los, fort von den Roten Priesterinnen. Ich
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