Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
Wangen.
„Joanna Ravenwood war eine Wandlerin. So nennen wir die Mitglieder der Ashera, die sich in uns feindlich gesonnene Gruppen einschleichen, um dort Informationen zu sammeln. Leider wurde sie enttarnt. Es war uns nicht mehr möglich, sie zu retten oder ihr Kind zurückzuholen. Ich bedauere Joannas Tod zutiefst, und ich bitte Sie um Vergebung, dass wir Sie nicht schon eher befreit haben. Aber wir waren der festen Überzeugung, das Kind sei mit seiner Mutter verbrannt worden. Als Armand mir von Ihnen erzählte, wusste ich sofort, dass Sie nur Joannas Tochter sein konnten, und ich bat ihn, Sie hierher zu bringen. Wie ich hörte, waren die Umstände, die nun so kurzfristig dazu geführt haben, nicht gerade angenehm für Sie.“
Ich schloss für eine Sekunde die Augen und atmete tief durch. Er wusste also alles. „Nein, das waren sie nicht.“
„Es ist dennoch gut, dass Sie es auf diesem Weg erfahren haben. Ich hatte schon überlegt, wie wir es Ihnen am Schonendsten beibringen sollen. Denn ich wollte nicht, dass gleich zu Anfang ein Geheimnis zwischen uns steht.“
„Dann war es also völlig sicher, dass Sie mich hier aufnehmen?“
„Nein, durchaus nicht. Das hing von Ihrer Bereitschaft ebenso ab, wie von dem Stand Ihrer Initiation. Ich konnte nicht wissen, wie viel dunkle Kraft Ihnen schon zuteil geworden ist. Also konnte ich Armand auch nicht versprechen, dass wir Sie aufnehmen.“
„Und jetzt?“, fragte ich, immer noch auf das Bild meiner Mutter blickend. Trotzdem sah ich das breite Lächeln auf Franklins Gesicht.
„Sie sind hier willkommen, Melissa, wenn Sie es möchten.“
Er ließ mir Zeit, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Sein Blick war beobachtend, aber nicht aufdringlich. Innerlich hatte ich meine Entscheidung bereits gefällt, doch ein Rest von Unsicherheit blieb, ob ich wirklich das Richtige tat. Als ich ihn kurz ansah, nickte er mir aufmunternd zu.
„Wie war meine Mutter?“, fragte ich beklommen und starrte wieder mit tränenerfüllten Augen auf das Amulett.
„Sie hatte große Fähigkeiten und war eine mutige Frau. Sie wurde bei uns allen sehr geschätzt. Joanna war sanft, hilfsbereit. Ein fröhlicher Mensch. Mit einem großen Herzen gesegnet.“ Er sprach mit Wärme, aber auch ein wenig distanziert.
„Kannten Sie auch meinen Vater?“ Jetzt hob ich den Kopf wieder und sah ihn an.
Franklin musterte mich nachdenklich und nippte an seinem Sherry, bevor er mir antwortete. „Joanna hat seinen Namen niemals preisgegeben. Das war ihr gutes Recht.“
Sein Blick war warm und ungemein beruhigend. Er gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein mit meinen Sorgen und Ängsten. Vermittelte den Eindruck, eine Antwort auf alle Fragen dieser Welt zu haben, auch wenn das unmöglich war. Ich war so verwirrt, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Fühlte mich am Rande eines großen schwarzen Lochs, das ich einmal mein Leben genannt hatte. Jetzt war nichts mehr davon übrig.
„Man kann auf diesem Bild kaum etwas erkennen.“
„Es gibt ein Portrait von ihr. Wollen Sie es sehen?“
„Ja, bitte.“
Er brachte mich in einen Raum im Kellergeschoss. Dort standen unzählige, in durchsichtige Folie eingeschweißte Bilder. Viele davon Portraits von verstorbenen Mitgliedern der Ashera. Franklin holte ein Gemälde unter den vielen hervor und stellte es vor mir auf den Boden, wobei er es festhielt, damit es nicht umfiel. Die Frau auf dem Bild war erst Anfang zwanzig, mit langem schwarzem Haar und dunkelblauen Augen. Ihre Züge waren fein, fast aristokratisch. Der sinnliche Mund schien zu lächeln. Etwas ließ ihren Blick traurig wirken. Ich streckte meine Hand hilflos danach aus, wagte aber nicht, das Bild zu berühren.
„Danke“, hauchte ich und wendete mich ab, um mir die Tränen abzuwischen. Franklin reichte mir ein Taschentuch. Ob ich in diesem Leben noch einmal aufhören würde zu weinen?
„Lassen Sie uns wieder nach oben gehen.“ Ich ließ zu, dass er den Arm tröstend um meine Schultern legte, während er mich nach oben führte. Dort setzte er mich wieder in den Sessel und reichte mir ein zweites Glas Sherry. „Trinken Sie, es wird Ihnen gut tun.“
Die schwere Süße des Sherrys beruhigte meine Nerven. Allmählich versiegten meine Tränen. In mir wuchs die Bereitschaft, mit meiner Vergangenheit abzuschließen. In diesem Haus hier lag meine Zukunft. Ich musste es nur wollen.
Schüchtern saß ich da, in diesem großen anheimelnden Raum. Klein kam ich mir vor – und
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