Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
über mir wölbte sich eine kunstvoll gearbeitete Decke. Ich hielt den Atem an bei der Schönheit der Arbeit, die diese ganze Decke erstrahlen ließ. Ein Bild, so ausdrucksstark, dass es fast lebendig wirkte. Einhörner mit anmutigen Hälsen und schlanken Beinen tummelten sich an klaren blauen Seen. Wunderschöne Engel mit goldenen Flügeln tanzten auf Wolken und breiteten segnend die Hände aus. Nymphen und Feen sprangen zwischen den Einhörnern über sattes grünes Gras. Ich war wie verzaubert. Nur mühsam riss ich den Blick davon los und schaute mich weiter um. Überall im Raum verteilt waren kleine Sitzgruppen zusammengestellt. Immer vier weiche Ledersessel und dazwischen ein kleiner Tisch. Auf einem Sideboard neben der Eingangstür standen Gläser und Karaffen mit unterschiedlichem Inhalt. Der Holzboden wurde von unzähligen Schaffellen bedeckt.
„Aus unseren eigenen Beständen“, erklang eine tiefe Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und erblickte einen Mann, den ich sofort als Franklin Smithers erkannte. Er war etwa Anfang vierzig, was ich noch reichlich jung für den Vater eines Mutterhauses fand, zirka einsachtzig groß, mit sportlicher Figur. Seine Gesichtszüge wirkten milde, und in seinen bernsteinfarbenen Augen brannte ein geradezu jugendliches Feuer. Die dunkelbraunen kurzen Haare wiesen schon einzelne graue Strähnen auf, was seiner Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat. Sein Lächeln schlug mich sofort in seinen Bann. Es zeigte einen humorvollen Charme, wie man ihn nur selten findet. Dieser Mann wirkte durch und durch Vertrauen einflößend. Meine Angst und Aufregung ließen nach. Er war durch die zweite Tür hereingekommen, die offenbar zu seinem Arbeitszimmer führte. Seine Hand lag noch auf der Klinke.
„Die Ashera züchtet ihr Vieh selbst“, sagte er, während er auf mich zukam. „Und wir bauen auch unser Obst, Gemüse und Getreide selbst an. Wir sind sozusagen unabhängig von der Welt da draußen, auch wenn wir den Luxus genießen, den sie uns bietet.“ Sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Er reichte mir zur Begrüßung die Hand. Eine starke, warme Hand. „Sie sind also Melissa. John sagte, dass Sie eben angekommen sind. Sie sehen müde aus.“
Seine Sorge war echt. Diese Augen! Die Karten. Wie der Hohepriester – und der König der Kelche. Seltsam. Sollte ich das als gutes Omen werten?
„Ich hatte keinen besonders guten Tag.“
„Nehmen Sie doch schon mal Platz. Möchten Sie einen Sherry?“
Ich nahm dankend an und ging zu der Sitzgruppe am Kamin, auf die er gewiesen hatte. Die einzige, die aus fünf statt vier Sesseln bestand. Er folgte mir mit zwei gefüllten Gläsern, von denen er mir eines reichte.
„Sie lieben also das Meer.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.
„Ja“, antwortete ich überrascht. „Woher wissen Sie das?“
„Nun, Sie haben im Sessel des Wassers Platz genommen. Das ist der erste Test, den jeder Neuling hier durchläuft. Es hilft uns, die Fähigkeiten und Neigungen besser einzuschätzen. Diese fünf Sessel sind den fünf Elementen zugeordnet. Feuer, Wasser, Erde, Luft, Äther. Jeder nimmt automatisch in dem Sessel Platz, der seinem Wesen entspricht. Dafür wurden sie vor vielen hundert Jahren gemacht.“
Ich war erstaunt über die ruhige und selbstverständliche Art, mit der er mit mir sprach. In seinen Augen schien ich keine Fremde zu sein. Ich wurde ruhiger und fand wieder zu meinem inneren Gleichgewicht. Das Gefühl, am richtigen Ort angekommen zu sein, wurde stärker.
„Sie haben etwas für mich?“ fragte er schließlich. Er deutete kurz auf das Buch, das nun – immer noch in seinen seidenen Schutz eingeschlagen – auf meinem Schoß lag. Zögernd reichte ich es ihm. Ob er wusste, dass Armand es gestohlen hatte? Dass ich letzte Nacht noch in der Gefahr geschwebt hatte, verbrannt zu werden? Er blätterte eine Weile schweigend in den Seiten. Schließlich legte er das Buch beiseite und sah mich aufmunternd an. Auf seinen Zügen lag erneut jenes warme Lächeln, das ein Gefühl von Heimat in mir aufkommen ließ.
„Nun, ich habe auch etwas für Sie, Melissa.“
Er reichte mir die geschlossene Hand, und ich hielt meine geöffnete darunter. Ein goldenes Medaillon an einer Kette glitt hinein. Er nickte mir ermutigend zu, es zu öffnen. Die Frau, deren Bild sich in dem Medaillon verbarg, war meine Mutter. Ich keuchte. Meine Finger krampften sich um die filigrane Goldarbeit. Ein Schwall Tränen rann unaufhaltsam über meine
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