Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
durch London zu streifen. Er wollte zu Lemain gehen, wagte es aber noch nicht. Würde er ihm widerstehen können, seinem Vater der Dunkelheit? Er wusste es nicht. Aber er befürchtete, dass die Liebe zu ihm immer noch stark genug war. Er hatte es gefühlt, als er Lemain in Melissas Zimmer begegnet war. Das Zittern, die Sehnsucht. Tief verborgen unter der Wut, war es doch da gewesen. Lebendig wie eh und je. Gleich, wie viel Hass sich in all den Jahren aufgebaut hatte. Sie hatten sich geliebt. Fast achtzig Jahre lang waren sie zusammen geblieben. So etwas verband. Er konnte es nicht länger vor sich herschieben, und so folgte er den feinen Energieströmen, die ihn zu Lemain führten. Er trug verwaschene Blue-Jeans und einen leichten Mantel über dem dunklen Baumwollhemd. So fiel er nicht weiter auf unter den Menschen. Die winterliche Kälte spürte er nicht, ebenso wenig die feinen Schneeflocken, die auf seiner kalten Haut nicht sofort schmolzen.
Er fand das Haus – schon von außen nobel und vornehm. Ganz wie er es von Lemain kannte, der seinen Reichtum allzu gern zur Schau stellte. Mit zitternder Hand klopfte er an, ehe er es sich noch einmal anders überlegen konnte.
Lemain öffnete, kaum dass Armands Knöchel die Tür berührt hatten. Er trug seidene Hosen, doch sein Oberkörper war nackt. Armand stockte für einen Moment der Atem, als er seinen einstigen Liebhaber so sah. Lemain war schön. Schöner noch, als er ihn in Erinnerung hatte. Mit den starken Armen, der breiten Brust, auf der sich das rote Haar kräuselte. Und der schmalen Taille. Jeder einzelne Muskel seines Körpers zeichnete sich überdeutlich unter der Haut ab. Zeichen eines harten Lebens in Sklaverei, ehe Das Blut ihn erlöst hatte. Die Sehnsucht, ihn augenblicklich zu berühren, rollte wie eine unheilvolle Woge über Armand hinweg. Er erinnerte sich viel zu gut daran, wie es sich angefühlt hatte, in diesen Armen zu liegen. Sich an die Kraft dieses wundervollen Geschöpfes zu verlieren.
„Du kommst endlich zu mir zurück?“, fragte Lemain und durchbohrte Armand mit seinem Blick.
„Ich komme zu dir. Aber ich komme nicht zurück.“
Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unsicher er in Wirklichkeit war. Lemain trat zur Seite und wies einladend mit der Hand nach innen.
„Aber eintreten wirst du doch, oder? Es sieht nicht sehr gemütlich aus da draußen.“
Wortlos ging Armand an ihm vorbei. Die Wohnung war fast völlig in schwarz und rot gehalten. Die Farben denen ein Vampir auf Leben und Tod ausgeliefert ist. Überall fanden sich altägyptische Statuen und Bilder, die in dieser dämmrigen Beleuchtung gespenstisch lebendig wirkten. Lemain würde nie ganz von seinen sterblichen Wurzeln lassen können. Auch wenn er seinen Namen und seine Sprache nach seiner Ankunft in Frankreich vor etlichen hundert Jahren angepasst hatte. Seine Seele blieb ägyptisch – die eines Sklaven im ewigen Land der Pharaonen.
Direkt neben der Eingangstür stand eine mannshohe Statue des Totengottes Anubis mit dem Schakalskopf. Schwarz lackiert mit goldenem Schmuck und roten Augen. Welche andere Gottheit hätte wohl besser in den Eingangsbereich eines Vampirs gepasst.
„Er ist herrlich, nicht wahr?“, sagte Lemain und strich liebevoll über den dunklen Körper, bis er seine Hand schließlich auf dem Phallus der nackten Götterstatue liegen ließ. Armand registrierte es mit einem Blick, der Lemain mehr verriet als verbarg, doch er bemühte sich um Beherrschung.
„Etwas übertrieben vielleicht“, bemerkte er lediglich und ging an Lemain vorbei.
Auch sonst waren die Bilder und Skulpturen, die Lemains Wohnung zierten, Darstellungen des Totenreiches und der Dunkelheit. Der schlangengestaltige dämonische Unterweltsgott Apophis – ebenfalls aus schwarz lackiertem Holz. Ein Bild der Ammit – eine Dämonin, die die Toten verschlang, welche das Jenseitsgericht nicht bestanden. Der Kopf Krokodil, der Leib Raubkatze und das Hinterteil Nilpferd. Etwas sanftere Gottheiten waren da schon Horus und Isis. Aber Sechmet, Seth und Sobek wirkten alles andere als vertrauenerweckend. Selbst für einen Vampir. Die Statuen der drei waren aus Edelstein, mussten ein Vermögen gekostet haben und wirkten beinahe real. Es schauderte Armand für einen Moment.
„Wie ich sehe, richtest du dich für länger ein“, bemerkte er trocken.
„Da ich meinen einstigen Gefährten hier wiedergefunden habe, dachte ich, es wäre sinnvoll, sich ein Domizil zuzulegen. Auf Dauer sind die
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