Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
was auch immer geschehen war. Er mochte enttäuscht sein, gekränkt, aber er würde dieses Vertrauen nicht ausnutzen, da war ich mir sicher. Wenn ich Abschied genommen hatte von Ivanka – von dem, was von ihr noch übrig war – dann würde ich die Phiolen bei ihm holen, um sie für immer zu vernichten. Der Alptraum sollte sich nicht durch meine Schuld wiederholen.
Aber nun stand ich erst einmal vor der Burg auf Island. Luciens Bauwerk war gebieterisch und beeindruckend. Dieses hier eher abschreckend und unheilkündend. Schon der Standort war kühn gewählt. Auf einer Klippe, die weit ins Meer hineinragte. Tief unten gruben die Wellen sich immer weiter ins Land hinein. Doch die Burg trotzte der bedrohlichen Kraft des Wassers. Vier Türme ragten empor. Der Innenhof wurde von einer hohen Mauer umrundet. Das Banner mit dem Bären aus Feuer flatterte im Wind. Irgendwo dort drinnen in diesem hässlichen toten Steinkoloss hatte mein Kind den Tod gefunden.
„Je dois t’accompagner? Soll ich dich begleiten?“, fragte Armand hinter mir und legte liebevoll seine Arme um mich. Für einen Atemzug erlaubte ich mir, schwach zu werden. Halt zu suchen in dieser tröstenden Umarmung. Sein schwarzes Haar im kalten Küstenwind streichelte meine Wangen.
„Ja, das wäre schön. Danke.“
„Sie hat kein Wort mehr gesagt. Aber sie war sehr stark. Ich habe sie bis zum Turm begleitet.“ Er zögerte einen Moment. „J’ai vu la corneille. Ich habe die Krähe gesehen, von der du immer sprichst. Camilles Krähe.“ Ich blieb stehen und sah ihn fragend an. Ein trauriges Lächeln glitt über seine Züge. „Es erschien mir ein Zeichen zu sein, dass sie kam. Ich wusste von deinen Zweifeln. Und als es vorüber war und die Krähe sich auf meine Schulter setzte, dachte ich, dass es dir leichter fallen würde, wenn du weißt, dass es keine Wahl mehr gibt, die du treffen musst.“
„Du hast sie mit der blonden Strähne zu mir geschickt.“ Er nickte stumm. „Dann habe ich dir noch mehr zu danken.“
Ich ließ Armands Hand nicht mehr los, als wir die Burg betraten. Die Tore öffneten sich wie von Geisterhand. Kortigu wartete bereits und führte uns zum Sonnenturm, einem kleinen Gelass, das von außen nicht zu sehen war. Kaum zwei Stockwerke hoch, mit einem eisernen Gitter als Dach, das keinerlei Schutz vor dem tödlichen Kuss der Sonne bot.
Die schwere Eichentür quietschte in ihren Angeln, als Kortigu sie aufstieß. Der Anblick, der sich mir bot, raubte mir den Atem. Ich barg mein Gesicht an Armands Brust. Der Schmerz schien mein Herz in Stücke zu reißen. Eine Träne stahl sich ihren Weg aus meinem Auge, rann über meine Wange, hinterließ eine feuchte Spur. Ich brachte kein Wort über die Lippen. Kortigu stand hinter uns, mit versteinerter Miene. Er legte eine Hand auf meine Schulter, doch weder er noch ich fanden Trost darin. Wir hatten verloren was wir liebten.
Sie war meine Tochter gewesen, und ich hatte sie geliebt. Aber ich empfand weder Hass noch Bitterkeit gegen Kortigu. Er hatte nicht anders handeln können und es war mir lieber, er hatte das Urteil vollstreckt und nicht Lucien. Ihm hätte ich gegrollt, auch wenn er sich ebenso wenig Kalistes Befehl entziehen konnte, wie sein Dunkler Bruder, das hatte man am Pol ja gesehen. Für Kortigu hatte ich Mitgefühl, trotz der Tatsache, dass erst seine Anklage zu dem Todesurteil geführt hatte. Aber auch er litt unter dem Verlust seines jüngsten Sohnes, das spürte ich. Und er hatte noch einen Sohn verloren.
Wenigstens, so tröstete ich mich, hatte er Demion und Ivanka gemeinsam sterben lassen. Ein letzter Hauch Geborgenheit im sicheren Angesicht des Todes, der so unaufhaltsam kam, wie die Sonne, die ihn mit sich brachte. Ein letztes Mal und für immer waren sie einander nah gewesen. So waren auch ihre Seelen in der Ewigkeit vereint.
Immer noch gestützt von Armand betrat ich den Raum, der jetzt in völliger Dunkelheit lag. Vor wenigen Stunden hatten hier zwei liebende Herzen ihr unsterbliches Leben gelassen, in der tödlichen Kraft der Sonne. Ein Stich ging durch mich hindurch. Ich liebte die Sonne so sehr. War töricht genug gewesen, eine Katastrophe über die ganze Welt heraufzubeschwören, nur um sie wiederzusehen. Jetzt würde ich sie nie mehr sehen. So wenig wie mein Dunkles Kind. Zögernd streckte ich eine Hand aus nach dem Haufen Asche, der auf dem Boden lag. Doch ich brachte es nicht über mich sie zu berühren. Grau und trostlos lagen dort ihre Überreste. Feiner
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