Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
blieb bewegungsunfähig liegen und erwartete die tödlichen Strahlen der Morgendämmerung. Wie dumm von mir, am Ende der Nacht das Wagnis einzugehen, entgegen der Darkzone zu reisen. Die Sonne war schneller gewesen als ich. Wenig später fühlte ich das Prickeln auf der Haut, als ein schmaler Streifen Licht den Horizont erhellte. Vorbei. Es war vorbei. Armand! Mein letzter Gedanke galt ihm allein, ehe mein Geist sich in die Tiefen meines Bewusstseins zurückzog und ich meinem Sterben entgegensah.
Im Halbschlaf nahm ich wahr, wie mich jemand auf die Arme hob und fort trug. Ich lehnte den Kopf an eine schmale, weiche Schulter. Seidiges Haar streichelte mein Gesicht. Dann wurde es dunkel und angenehm kühl. Die Brandblasen in meinem Gesicht und auf meinen Händen, wo die Sonne mir bereits ihren Kuss gegeben hatte, pochten nicht mehr so stark. Mein Kopf wurde angehoben, glatte Haut schmiegte sich an meinen Mund, flüssiges Feuer floss über meine Zunge. Eine erquickende Quelle. Mein Körper begann zu heilen, die Schwäche verflüchtigte sich allmählich. Seufzend sank ich zurück auf den Boden, wurde zugedeckt und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Als ich erwachte spürte ich sofort, dass ich nicht allein war. Suchend wanderte mein Blick an den kahlen Felswänden der kleinen unterirdischen Höhle entlang, doch ich konnte niemanden entdecken. Draußen war es wieder Nacht geworden. Ich schlug die weiche Decke aus Kaninchenfell beiseite, erhob mich und suchte den Weg aus der Höhle heraus. Der Eingang lag einige hundert Meter über dem Erdboden, eingebettet in scharfkantige Felsspalten, für Menschen nicht zugänglich. Weit unter mir erkannte ich die Lichter einer kleinen Stadt.
„Geht es dir wieder besser, Melissa?“
Ich wirbelte zu der Stimme herum und mein Herz wechselte augenblicklich vom rasenden Rhythmus des Erschreckens zu völligem Stillstand. Das Blut wich aus meinem Gesicht, eine unangenehme Kälte kroch mir in die Glieder. Die Königin, Kaliste, und sie war allein. Ohne Dracon und ohne ihre Ghanagouls.
„Du solltest nicht so unvorsichtig sein, mein Liebes. Beinah wärest du gestorben. Welch Glück, dass ich in deiner Nähe war.“
Ich hätte ihr vermutlich danken sollen, denn sie hatte mir das Leben gerettet, aber ich brachte kein Wort hervor. Sie überging dieses Fehlverhalten und streckte stattdessen lächelnd ihren feingliedrigen Arm aus. Ein kleines silbernes Röhrchen baumelte daran, an einer langen silbernen Kette. Nein, kein Silber – Elektrum. Mit mystischen Zeichen darauf, wie ein Zauberbann.
„Hier, mein Kind“, sagte sie.
„Was ist das?“ Ich hatte endlich meine Sprache wiedergefunden.
„Öffne es und sieh selbst.“
Ich nahm das Schmuckstück aus ihrer Hand, schraubte behutsam den Verschluss auf und schaute verwirrt auf die Strähne schwarzen Haares, die es enthielt. Ihr Haar?
Ein leises, tadelndes Lachen war die Antwort. „Nein, Melissa. Es ist seines. Das Haar des Drachen. Eine einzelne Strähne, getränkt mit seinem Blut und von unvergleichlicher Macht. Ich überantworte ihn dir. Du sollst seine Bewahrerin sein, sein Schicksal.“
In meinem Kopf begann ein ganzer Schwarm Mücken aufgeregt durcheinander zu summen. Ich? Sein Schicksal?
„Die Runen auf dem Gefäß binden ihn an dich. Dies ist seine Strafe.“
Oh wunderbar! Genau das, wovon ich immer geträumt hatte. Kindermädchen für einen Psychopathen. „Ich nehme an, ich kann diese, äh, Ehre, nicht ablehnen?“
Sie schloss meine Hand um das Röhrchen. „Nein, das kannst du nicht. Ich weiß, was du jetzt fühlst, denn ich weiß, was damals geschah in New Orleans, als du noch sterblich warst. Doch er hat sich verändert. Er liebt dich seit dieser Nacht. Das erste Mal seit er Lucien verlassen hat, empfindet er wieder dieses Gefühl. Das macht ihm Angst. Denn es macht ihn verletzlich. Er möchte dich dafür hassen, doch er kann nicht. Hast du das denn nicht gewusst? Es war nicht sein Zorn auf Armand, den er dich spüren ließ. Es war sein Zorn auf dich, weil du – ausgerechnet du – eine erwählte Tochter Armands, eine Rose in ihm zum Erblühen brachtest, die er längst verwelkt geglaubt hatte.“
Sie schritt an mir vorbei, warf über ihre Schulter einen Blick zurück. „Kann es eine schlimmere Strafe für ihn geben, als an die gebunden zu sein, die er liebt und deren Herz er niemals wird erreichen können, weil sie das ihre einem anderen schenkt?“
Na prima, wenn das, was ich seit unserer ersten Begegnung mit ihm
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