Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
seine Wahl fiel ausgerechnet auf den Schüchternsten der Gruppe. Den Schwächsten.
Wie alt mochte er sein? Anfang zwanzig vielleicht. Alt genug für eine Freundin, doch in seiner Seele konnte ich sehen, dass er auch dafür zu scheu war. Er hatte noch keinerlei Erfahrungen und wurde von seinen Kumpels deswegen immer aufgezogen, die alle längst nicht mehr solo waren. Er hingegen hatte lediglich auf dem College heimlich die Mädchen aus seiner Klasse beim Duschen nach dem Sportunterricht beobachtet und schwärmte seit kurzem für seine Kollegin mit langen blonden Haaren und süßer kleiner Stupsnase an der Supermarktkasse. Aber er hatte noch nie eine Frau geküsst oder gar mehr. Ungewöhnlich für sein Alter. Es machte ihn in meinen Augen liebenswert. Kein Mensch, den ich jemals als Opfer wählen würde.
Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass er genau das werden sollte. Ein Opfer für mich, das mein Lord zielstrebig ausgesucht hatte, um mich den Geschmack süßer Unschuld kosten zu lassen. Unschuldiges Blut war das sicherste Gegenmittel für die unerwünschte Menschlichkeit einer vampirischen Seele.
In der ersten Spielpause auf dem Feld war es soweit. Unser Spiel begann. Alles stürmte zu den Hot Dogs und Getränkeständen. Auch Luciens Auserwählter. Er holte die Getränke für sich und die anderen, spielte wie immer den Laufburschen für die Clique. Lucien stand neben dem Typen, der die Becher fertig machte. Unsichtbar in Materiepartikel gehüllt. Aber nicht unsichtbar für mich. Ich sah, wie Blut aus seinem Finger quoll. Wie einige Tropfen in den letzten Becher fielen, bevor der Verkäufer hinter dem Tresen den Deckel darauf drückte, einen bunten Strohhalm hineinstieß und dem Jungen seine Limonade reichte. Niemand hatte etwas bemerkt. Lucien war geschickt in diesen Dingen. Mich schauderte, als ich dem jungen Mann nachsah, wie er wieder zurück ins Stadion schlenderte, ahnungslos an seiner Cola saugend. Lucien trat neben mich, ein selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen.
„Er ist hübsch, nicht wahr? Gefällt er dir,
elby
? In einer Viertelstunde ist es soweit. Er wird unruhig werden. Wird etwas suchen, ohne zu wissen, was es ist. Er wird zu mir kommen.“
Und so war es auch. Mitten im Spiel stand er auf und murmelte eine Entschuldigung, er müsse zur Toilette, als einer seiner Freunde ihn fragte, wo er hinwolle. Er kam die Treppen von der Tribüne herunter. Nach hinten, vorbei an den Snackbars und auch an den Toiletten. Lucien und ich standen im Schatten in der Nähe der Ausgangstür. Ich war unruhig, als er sich uns näherte, sich mit gerunzelter Stirn umschaute, bis er plötzlich Lucien entdeckte. Zielstrebig kam er zu uns herüber.
„Haben Sie mich gerufen?“, fragte er mit unschuldiger, staunender Stimme.
„Ja, das habe ich“, antwortete Lucien lächelnd. Und dann senkte sich eine Wolke des Vergessens auf den Jungen und wir drei verschwanden ungesehen in der Nacht.
Joey, so hieß er, schlief tief und fest, als wir die Isle of Dark erreichten. Lucien legte ihn auf das große Bett im privaten Schlafzimmer. Ich fragte mich, ob er mir diese Räume nicht auch deshalb zuvor gezeigt hatte, weil er beabsichtigte, heute Nacht einen Gast hierher zu bringen. Ob die Bilder und die Vernissage vielleicht nicht mehr als ein Vorwand gewesen waren.
Er streichelte dem Jungen über den goldenen Schopf. Lächelte dunkel und kalt bei dem Gedanken an das, was nun unweigerlich folgen würde. Zufrieden wie eine Raubkatze, die ihrem Nachwuchs die bereits erlegte Beute servierte. Nein, noch nicht erlegt. Nur betäubt, angeschlagen, waidwund. Damit das Jungtier noch damit spielen und das Töten lernen konnte.
„Er hat sich nicht mal verabschieden können“, sagte ich bedauernd und wusste doch, wie unsinnig dieser Gedanke war.
Wie lange würde es dauern, bis sie ihn vermissten? Wie lange würde man nach ihm suchen, ohne ihn je zu finden? Lucien hinterließ keine Spuren. Wie viel Schmerz konnten Eltern ertragen, die nie erfuhren, was aus ihrem Kind geworden war? Was würden seine Freunde denken, wenn er nicht wieder zu ihnen zurück kam?
Ein leises Stöhnen zeigte uns, dass Joey aufwachte. Lucien nahm neben ihm Platz, streichelte zärtlich seine Wange, beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Ich konnte sehen, wie der sanfte Druck der Lippen erwidert wurde. Beim zweiten Kuss schob Lucien seine Zunge zwischen die weichen schmalen Lippen und ich hörte, wie Joey erschrocken Luft holte. Lächelnd strich Lucien ihm
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