Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
drangen.
Lucien war nicht ganz der weise, gütige Führer, den ich so gern in ihm sehen wollte. Das hatte ich längst gelernt. Menschen bedeuteten ihm nichts. Ein Leben war nicht mehr wert als eine Mahlzeit oder ein amüsanter Zeitvertreib. Und genau das musste auch ich lernen. Mich nicht an sterbliches Leben zu binden. Keine Skrupel gegenüber meinen Opfern zu empfinden. Kein Mitleid, kein Bedauern, kein Streben nach Vergebung für die vermeintlichen Sünden, die ich beging. Andernfalls würde die Blutgier des Dämons mich langsam in den Wahnsinn treiben.
Der Lord öffnete seine Augen – der Dämon verschwand wieder gänzlich in seinem Körper. Selbst für meine Hexenaugen unsichtbar.
„Lass uns nach unten gehen. Die Nacht verspricht nicht sehr gemütlich zu werden. Außerdem möchte ich dir etwas zeigen.“ Er lächelte jetzt wieder freundlich, aber dennoch verschlagen. Was konnte es sein, was er mir zeigen wollte? „Ich öffne dir einen weiteren Teil meines Lebens,
thalabi. Hazehi aahlamah aala thekate bek
. Als Zeichen meines Vertrauens.“
Ich folgte ihm in den Teil der Burg, die er als sein privates Refugium bezeichnete. Hier blieb er normalerweise für sich. Auch ich hatte diese Räume bislang nicht betreten dürfen. Und seine Diener kamen hier nur hinein, wenn es etwas ‚aufzuräumen’ galt. Wie bei den geheimen Räumen unter der Burg, gab es auch diesmal erst einen Gang, der den einen mit dem anderen Teil verband. Neugierigschaute ich mich darin um. Überall hingen Bilder. Dazwischen Kandelaber, die aufflammten, sobald Lucien an ihnen vorüber schritt. Als er schließlich stehen blieb, befanden wir uns in einer riesigen Bibliothek, die sich über zwei Ebenen erstreckte. Mittels einer kleinen Wendeltreppe erreichte man die Empore. Hier erinnerte nichts mehr an eine Burg. Die Wände waren verputzt und in warmen Tönen gestrichen. Ocker, Terrakotta und beige. Von der Decke hingen Lampen im modernen Design und verströmten ein sanftes, anheimelndes Licht. Ein flauschiger Teppich bedeckte den Steinboden. Die Möblierung unterschied sich kaum von der, die ich aus Armands Heimstätten und aus Franklins Räumen kannte. Dies hier war die Welt des sterblichen Lucien. Eine Welt der Illusion. Mit der er Menschen täuschte, wenn er das Spiel um ihr Leben länger ausdehnte. An die Bibliothek grenzte eine Küche, die jeden Chefkoch vor Neid hätte erblassen lassen. Das Schafzimmer, das zum Inselinneren hinwies, beherbergte ein französisches Bett, das mit smaragdfarbenem Bettzeug bezogen war, und Schränke in hellem Lindgrün. Die Decke glich einem Meisterwerk der Malkunst und erinnerte mich stark an die im Kaminzimmer von Gorlem Manor. Nur dass hier keine Einhörner und Elfen auf sonnenbeschienen Wiesen spielten, sondern ein Szenario von Himmel und Hölle mit wunderschönen goldgelockten Engeln und grausigen Dämonen dargestellt war. Erschreckend lebendig. Der absolute Traum dieser Scheinwelt aber war das luxuriöse Badezimmer mit einem riesigen Whirlpool als Zentrum. Sowohl die Kacheln als auch die sanitären Einrichtungen wiesen eine sandfarbene Musterung auf einem Untergrund in creme auf. Edelster Marmor in einer der seltensten Farbgebungen, die man wohl finden konnte. Unbezahlbar.
Er hatte an alles gedacht, um dieses kleine Reich wie das Zuhause eines gewöhnlichen, aber sehr reichen Mannes aussehen zu lassen.
Mit einem lauten Knall fiel die schwere Eisentür ins Schloss, die diesen Bereich von der Burg abtrennte. In der Wand war keine Öffnung mehr zu erkennen. Nicht der kleinste Spalt, der verraten hätte, wo sich die geheime Tür befand. Ich stieß scharf den Atem aus.
„Du bist gekommen, um zu lernen“, sagte er schließlich in mein Schweigen hinein. Fragend blickte ich ihn an, verstand nicht ganz, wovon er sprach. Lernte ich denn nicht schon die ganze Zeit, seit ich bei ihm war? Studierte seine Schriften, vor allem die vielen Überlieferungen, die es zu meinesgleichen gab. Ich ging mit ihm auf die Jagd, gewann Sicherheit darin, mich unter den Sterblichen zu bewegen, als sei ich noch eine von ihnen. Meine Fähigkeiten, den Verstand meiner Opfer zu betäuben oder ihre Erinnerungen an mich zu löschen, waren inzwischen perfekt. Warum also spielte er gerade jetzt so gezielt auf den Grund an, der mich hierher geführt hatte? „Du willst von mir lernen, wie du überleben kannst. Mit deiner menschlichen Seele, gefangen in einem Vampir. Bereust du deinen Entschluss inzwischen,
thalabi
?“
Ich begriff. Es
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