Ruf des Blutes 4 - Unschuldsblut (German Edition)
Jagdschrei ließ den Stein in Armands Rücken erzittern, brachte jede Zelle in ihm zum vibrieren, bis er glaubte, in tausend Teile zu zerplatzen. Gelähmt wie ein Kaninchen vor der Schlange sah er der Attacke entgegen, erst in letzter Sekunde gewann er wieder die Kontrolle über seinen Körper und rettete sich mit einem gewagten Sprung. Die Flügelspitzen erwischten lediglich seine Waden und trennten das Fleisch bis zum Knochen durch. Die Sehnen schnellten auseinander, rissen Armand von den Füßen, sein eigener Schwung schleuderte ihn gegen den nächsten Felsblock, doch immerhin bildete der mit zwei weiteren eine Art Höhle, in der er Sicherheit suchen konnte, bis seine Beine wieder funktionsfähig waren.
Draußen sah er nun, wie sich noch vier weitere dieser geflügelten Dämonen einfanden, die gemeinsam mit ihrem Bruder vor dem Eingang seines kleinen Schutzbunkers schwebend verharrten. Sie wussten, dass er früher oder später wieder herauskommen musste, also brauchten sie nur zu warten. Eine Alternative war, hier zu bleiben, bis die Sonne aufging und sich von ihr zu Asche verbrennen zu lassen.
Vielleicht die angenehmere Alternative zu diesen Kreaturen. Falls hier jemals eine Sonne aufging. Er wusste nicht, ob er das fürchten oder hoffen sollte. Die Ausweglosigkeit seiner Situation wurde ihm vollends bewusst, schlug gleich einer unheilvollen Woge über ihm zusammen und raubte ihm noch den letzten Rest an Hoffnung. Er war verloren, diesmal konnte er den Feind unmöglich besiegen. Seine Kehle war heiser vor Tränen, die unaufhörlich aufstiegen und sich ihren Weg bahnten. Sein Schluchzenhallte von überall her wider, trieb ihn in den Wahnsinn, wandelte sich mehr und mehr in ein Lachen, bis er erkannte, dass er tatsächlich lachte. Er lachte aus vollem Halse und konnte nicht das Geringste dagegen tun, von einem Lachkrampf nach dem anderen geschüttelt zu werden.
Endorphine jagten durch sein Blut und versetzten ihn in einen Wahnzustand, in dem nichts mehr eine Rolle spielte. Nicht die lauernden Jäger dort draußen, nicht der Schmerz in seinen Beinen und auch nicht mehr das Ziel, das er bislang so vehement und allen Widrigkeiten zum Trotz verfolgt hatte. Dieses Ziel … was war es noch?
Er hatte es vergessen. Sein Kopf glich einem Vakuum, undurchdringlichem Chaos, das weder Worte noch Bilder kannte, nur dieses hysterische Lachen, das von innen und außen und überall erklang, worin er sich verlor.
Ein unschuldiger Vampir! Ich kannte nur einen Ort, wo ich diesen finden könnte und der erschien mir zu einfach. Saphyro, der dunkle Prinz der Vampire, der androgyne Lord, der selbst noch nicht ganz Mann gewesen war, als Kaliste ihm den Blutkuss gab. Seine Kinder waren jung, ohne Arg. Er holte sie von den Straßen, aus der Hoffnungslosigkeit, gab ihnen ein Heim, eine Familie. Wenn sie alt genug waren, lehrte er sie die körperlichen Freuden und machte sie zu seinesgleichen. Jeder einzelne von ihnen, ob Knabe oder Mädchen, war ihm treu ergeben. Doch waren sie unschuldig? Wurden sie mit reinem Herzen verwandelt oder vorher an die Finsternis ihres künftigen Lebens herangeführt?
Saphyro und ich standen einander alles andere als nah. Ich hatte Vorurteile gegen ihn, weil mich sein Harem aus Kindvampiren ekelte. Da half auch nicht das Wissen um ein viel schlimmeres Schicksal, das sie ohne ihn erwartet hätte.
Ich wusste, wo ich ihn finden konnte. Tief in noch unbekannten Regionen des Regenwaldes hatte er einen Palast sein eigen gemacht, wie er einem wahren Herrscher gebührte. Wie viel von ihm und den seinen daran gefertigt war und was bereits seit Jahrhunderten dort stand, wenn nicht gar seit Jahrtausenden, konnte man schwerlich sagen. Auf jeden Fall beeindruckte mich die Pracht schon bei meiner Ankunft. Hoffentlich fanden Menschen diesen Ort nie, denn mit all dem Reichtum aus Gold und Edelsteinen glich er einer wahren Fundgrube für gierige Schatzjäger.
Bislang lebte Saphyro hier unbescholten mit seiner Schar. Nur gelegentlich reiste er mit einigen Schützlingen durch die Welt, besuchte Freunde, manche sterblich, die meisten unsterblich. So wie Lucien.
Er musste mich bereits erwartet haben, was mich wieder einmal in Erstaunen versetzte, doch die Lords waren anders als der Rest von uns. Wussten viel mehr als wir alle. Manchmal fand ich das äußerst beängstigend.
Doch Saphyro war mir wohlgesonnen und empfing mich mit offenen Armen. Ich musste zugeben, dass unsere Antipathie einseitig war, was mich beschämte.
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