Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
würde es das Ende der Menschheit werden und entgegen meiner anfänglichen Überzeugung standen die Chancen gering, dass wir es doch noch aufhalten konnten. Domeniko kannte all unsere Schwächen und nutzte sie aus. Damit hätte ich rechnen sollen.
Ein zuckender Körper erregte meine Aufmerksamkeit. Ein halbes Gesicht mit leeren Augenhöhlen, das Hirn lugte unter der zerschmetternden Schädeldecke hervor. Die Beine waren abgerissen und als Beute fortgetragen worden, der rechte Arm lag vom Rumpf halb abgetrennt neben dem Leib. In der Brust klaffte ein tiefes Loch. Die Kälte hatte den Blutfluss zum Erstarren gebracht. Der Mund mit den blauen Lippen war zu einem stummen Schrei aufgerissen. Unmöglich, dass sich dieser Leib noch rühren sollte, und doch tat er es. Aber nicht aus eigenem Antrieb.
Unter den kümmerlichen Überresten des Menschen bewegte sich zitternd ein dünnes Ärmchen, griff hilflos nach einem Stück Stoff, das sacht vom Wind bewegt wurde. Ich vernahm schwaches Wimmern – dem Tode näher als dem Leben – und schob den verstümmelten Torso beiseite. Darunter hervor kam ein Kind, ein hilfloses Kind, dessen Lebenslicht nur noch flackerte, kurz davor, zu verlöschen. Auch dieser kleine Körper war gezeichnet von Krallen und Zähnen. Die Kälte hatte fast vollendet, was die Wölfe begonnen hatten. Es war kaum mehr fähig, einen Laut des Schmerzes zu formen und zuckte nur noch schwach, doch der Geist war noch wach. Welch grausames Martyrium. Ich kniete mich neben das Gebilde aus Fleisch und Knochen, strich zärtlich eine blutverklebte blonde Strähne aus der Stirn.
„Gut Nacht, mein Kind, gut Nacht“, flüsterte ich, während meine Hand sich um die feinen Wirbelkörper im Nacken legte – die Haut war kälter noch als meine – und sie mit einer schnellen Bewegung brach. Die Augenlider zuckten noch einmal, senkten sich hinab, der Arm kam zur Ruhe.
„Mord kann eine Gnade sein“, sagte Lucien hinter mir. Ich hörte seine Schritte in dem knöcheltiefen Schnee kaum.
„Ja, eine Gnade. Die wir vielleicht noch viel zu oft gewähren müssen, wenn wir diesen Krieg nicht bald beenden.“
Nur wie?
Osira materialisierte sich und blickte traurig über die Verwüstung. Zerbrochene Scheiben, zertrümmerte Häuserwände, ausgebrannte Autos und jede Menge Leichen.
„Du musst ihn reizen, ihn herausfordern. Sonst wird er sich weiterhin einen Spaß daraus machen, dich mit deiner Hilflosigkeit zu quälen.“
Leichter gesagt als getan. Wie forderte man jemanden heraus, der sich nicht blicken ließ? Keiner unserer Späher hatte sein Versteck bisher ausgemacht. Nicht einmal Blue schaffte es, seine Spuren zu verfolgen.
„Jeder hat einen Schwachpunkt. Auch er. Seiner ist Stolz. Stellt man ihn als Feigling hin, der sich hinter seinen Handlangern versteckt, weil er nicht Manns genug ist, sich dir zu stellen, wird er das nicht lange auf sich sitzen lassen.“
Damit hatte Osira recht, nur fehlte mir die Möglichkeit, ihm das mitzuteilen. Damit unterschätzte ich den Pragmatismus meiner Wölfin. Sie verschwand um die nächste Straßenecke, ich hörte Scheppern und Klirren. Gleich darauf kam sie zurück und spuckte mir etwas vor die Füße. Eine Spraydose?
„Lucien ist doch der künstlerisch Begabte“, meinte sie spöttisch, ohne sich von dem funkelnden Blick des Lords einschüchtern zu lassen. „Platz hast du genug. Und an Farbe mangelt es ebenfalls nicht. In den meisten Garagen wirst du irgendwelche Büchsen und Dosen mit Lack finden. Notfalls tut es auch Blut. Denen ist es egal.“ Sie stieß eine der Leichen mit der Schnauze an.
Mir blieb der Mund offen stehen. So simpel, dass ich im Leben nicht darauf gekommen wäre. Obwohl ich mir albern vorkam, hob ich die Dose auf und ging zum nächsten Gebäude.
Wer sich hinter seinen Schergen versteckt, hat keinen Respekt verdient. Nur Feiglinge verkriechen sich!
Nicht schön, aber lesbar, befand ich. Armand trat an meine Seite, betrachtete grinsend mein Werk.
„Ein Werbeslogan wird das nicht“, kommentierte er, nahm mir die Dose ab und sprühte einen ähnlichen Satz ein paar Häuser weiter.
Dracon griff auf natürliche Farbe zurück und schmierte mit Blut einige Sachen an Wände, die ich wörtlich nicht wiedergeben wollte. Wenn Domeniko das nicht reizen würde, wusste ich auch nicht. Lediglich Lucien verzichtete auf die moderne Kunst. Er hielt den Versuch für blanke Verschwendung.
„Es wäre sinnvoller, die Spuren der Lycaner zu verfolgen. Irgendwo muss er sich
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