Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
später mit Sally trafen, die im oberen Stockwerk und den Bibliotheken nachgesehen hatte, kam auch Vicky mit mehlbestäubtem Gesicht zu uns. Inzwischen fing auch sie an, sich Sorgen zu machen.
„Sieht deinem Paps nich ähnlich. Und Ben auch nich. Ash is ja immer mal ein bisschen komisch, aber der würd doch jetzt nich verschwinden.“
Das konnte ich mir genauso wenig vorstellen. Hinzu kamen die Fußspuren, die mich stutzig machten, denn ein Paar der beiden, die sich im Kies verloren, war zierlich – ergo: weiblich.
„Weißt du, wer Franklin am Brunnen helfen wollte?“
Vicky zuckte die Achseln. Soweit sie wusste, niemand.
Armand spürte, wie Unruhe in mir hochkroch, und legte die Arme um mich. Ich musste mich beherrschen, um sie nicht beiseitezuschieben, weil der Drang, wie ein Tiger im Käfig umherzulaufen, sich nur schwer unterdrücken ließ.
Es konnte nur Domeniko sein. Er wollte mir eine Lektion erteilen. Wie könnte er das besser als mit Menschen, die mir nahestanden? An Armand kam er nicht heran, also war mein Vater das wahrscheinlichste Opfer. Wenn ein Gestaltwandler sich für mich ausgegeben hatte, war Franklin sicher ohne zu Zögern mitgegangen. Aber nein, er war tagsüber verschwunden. Da hätte der Trick mit meinem Äußeren nicht funktioniert. Und die beiden anderen? Wir wussten nicht mal, ob sie fortgelockt worden waren, geschweige denn, wie oder gar wohin. Der Gedanke, dass mein Vater, Ben und Ash in der Gewalt von Lycanern waren, verursachte mir Übelkeit.
„Nanu, Versammlung? Hab ich was verpasst?“
Vier Köpfe wandten sich synchron zur Eingangstür, die Ben hinter sich schloss. Sally stürmte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Ben wusste kaum, wie ihm geschah.
„Schatz, nicht dass ich mich nicht freuen würde, so herzlich begrüßt zu werden, aber ich war doch nur ein paar Stunden weg.“
Hilflos blickte er in die Runde.
„Franklin und Ash sind verschwunden. Wir dachten, du auch. Weißt du vielleicht, wo sie sein könnten?“
Das wusste er nicht. Aber er brachte einen Umschlag mit, der aus dem Briefkasten gelugt hatte. Dabei gab es seit Beginn der Katastrophe keinen Postdienst mehr. Demzufolge war es unwahrscheinlich, dass es sich um einen normalen Brief handelte.
Mit zitternden Fingern nahm ich ihn entgegen. Es stand weder Absender noch Adressat darauf und er war auch nicht zugeklebt. Im Inneren befand sich ein Zettel.
Wenn dir der Sinn nach Spielen steht, solltest du nach Walsingham kommen. Ich habe meine drei Figuren bereits aufgestellt
.
Drei? Aber Ben war doch …
„Vicky, wo ist Dusty?“
Solange Blue noch keinen Zugang zur chinesischen Festung gefunden hatte, sollte Dusty im Mutterhaus bleiben. Vicky hatte sich seiner angenommen, weil sie der Meinung war, er müsse aufgepäppelt werden, so mager, wie er aussah. Unsere Köchin wurde schneeweiß im Gesicht und schlug sich die Hand vor den Mund.
„Ich hab ihn mit einer Kanne Tee zu Franklin geschickt, das hatte ich ganz vergessen.“
Wir fanden Tee und Tasse auf dem Schreibtisch in Franklins Büro, wo Dusty sie abgestellt hatte, ehe er sich draußen auf die Suche nach Franklin machte. Demnach musste mein Vater als Erster verschwunden sein. Dustys Spuren führten bis zum Brunnen und wieder hinein. Den Teppich zierten ein paar Flecken, wo er mit nassen, schmutzigen Schuhen drübergelaufen war. Das alles gab Rätsel auf, aber ich vertraute auf meine erste Eingebung, dass unser Hacker der unbekannte Dritte war, von dem in dem Brief die Rede war.
„Und was sollen wir jetzt tun?“ Sallys Stimme klang dünn.
Dass sie sich um ihren Bruder sorgte, war verständlich. Für uns stand jedoch viel mehr auf dem Spiel. Ohne Dusty würde es schwierig, wenn nicht unmöglich werden, Biffs Code zu knacken und Domenikos System in China runterzufahren. Wusste der Lycanthrop das? Ich hoffte nicht, denn dann standen die Chancen umso schlechter, dass wir Dusty lebend befreien konnten.
„Wir gehen nach Walsingham zur Klosterruine. Uns bleibt keine Wahl.“ Ich zögerte, doch es war besser, wenn wir mit dem Schlimmsten rechneten. „Hoffentlich leben sie noch.“
Aliya rannte mit tränenüberströmtem Gesicht durch die Vororte Londons. Es war ihr egal, ob sie Domenikos Leute abgehängt hatte oder ob sie immer noch hinter ihr her waren. Sie hoffte nur, dass die anderen nicht dafür büßen mussten. Aber sie konnte das nicht mehr. Egal, was man mit ihr anstellte, wenn man sie einfangen sollte, sie wollte nicht mehr gegen ihre
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