Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
Überzeugungen handeln und ihre Freunde verraten. Der Schreck auf dem Gesicht von Melissas Vater hatte sich ihr eingebrannt. Sie sah immer wieder die aufgerissenen Augen und wie seine Lippen zitterten, als man ihn und die beiden anderen Männer fesselte und ihnen die Schlinge um den Hals legte. Der Junge hatte geschrien. So lange, bis man ihn niederschlug. Ob er noch lebte? Sie war nicht dageblieben, um sich zu vergewissern. Etwas in ihr war zerrissen. Als wäre der Bann, den Domeniko ihr aufgezwungen hatte, indem er sie unterwarf, mit einem Mal gebrochen und sie wieder frei in ihren Entscheidungen.
Es gab nur eine Wahl: Auf dem schnellsten Weg zu Melissa Ravenwood laufen und sie warnen. Vielleicht waren Steven und Thomas auch dort. Dann würde die Vampirkönigin ihr bestimmt zuhören. Wenn nicht, dann starb sie lieber gnädig durch ihre Hand als unter Domenikos Folter.
Das Ashera-Mutterhaus kam in Sicht. Aliya verlangsamte ihr Tempo, blieb unschlüssig stehen. Sollte sie als Mensch oder als Wolf hingehen? Heute Nachmittag hatte niemand außer Franklin Smithers sie gesehen. Doch ihre Wirkung war den Mitgliedern des Ordens nicht unbekannt. Sie würden sofort wissen, was sie war, und somit auch, für wen sie arbeitete. Aber einen Wolf empfing man auch nicht mit offenen Armen.
Sie schlang die Arme und ihren Leib und ging zitternd auf das große Tor zu. Es war unverschlossen. Der Kiesweg zum Eingangsportal erstreckte sich vor ihr, schien beinah zu lang, um ihn zu überwinden. Die Kälte der Nacht wurde ihr erst bewusst, als sie auf ihren überhitzten Körper traf.
Zu spät – zu spät – zu spät, pochte es hinter ihrer Stirn.
Ihr Herz hämmerte gegen den Brustkorb, während sie die zierliche Hand hob und klopfte. Aliya hörte ihren Atem in den Ohren rauschen, aber nichts regte sich in Gorlem Manor. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Eindringen noch nicht bemerkt worden war. Sicher stellten sie Wachen auf, wo sie stündlich mit einem Angriff Domenikos rechnen mussten. Gerade, als sie ein zweites Mal klopfen wollte, öffnete sich die Tür und ein breites Gesicht umrahmt von roten Kringellocken lugte hervor.
„Heilige Mutter!“, entfuhr es der Frau, und Aliya fragte sich einen Moment verwirrt, ob sie damit Maria oder Ashera meinte.
„Ben?“
Die runden Backen verschwanden. Drinnen hörte Aliya weitere Schritte und gleich darauf erschien ein Blondschopf neben der Rothaarigen.
„Ach du Scheiße. Das ist de facto eine Lupin. Du musst Aliya sein.“
Die Erleichterung, die Aliya ergriff, als sie ihren Namen hörte und sicher sein konnte, dass Steven und Thomas von ihr gesprochen hatten und sie nicht sofort zum Teufel gejagt wurde, riss ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Die Anspannung der letzten Stunden und der schnelle Lauf von Walsingham hierher forderten ihren Tribut. Ihre Muskeln zitterten vor Schwäche und sie sank dem Blonden in die Arme. Dass er nicht auf sie reagierte wie die meisten Menschenmänner, nahm sie kaum zur Kenntnis und wunderte sich auch nicht darüber. Sie spürte, wie sie nach drinnen gezogen wurde, der Duft von Kerzenwachs füllte ihre Nase. Lichtreflexe tanzten hintern ihren geschlossenen Lidern und ihr Kopf war wie mit Watte gefüllt. Ihr Geist kämpfte unter der Oberfläche ihres Bewusstseins darum, wach zu bleiben, obwohl ihr schwarz vor Augen wurde. Sie durfte jetzt nicht einschlafen oder ohnmächtig werden. Es ging um Leben und Tod.
„Walsingham“, brachte sie mühsam hervor. Gleich darauf wurde sie geschüttelt und jemand tätschelte ihr unsanft die Wange. Das brachte sie wieder zurück.
„Was sagst du da? Weißt du, wo Franklin, Ash und Dusty sind? Was ist mit ihnen?“
Sie schüttelte sich, fühlte sich eingeschnürt in ihrem menschlichen Körper und wollte gern in den wölfischen wechseln. Aber Aliya riss sich zusammen. „Domeniko stellt Melissa Ravenwood eine Falle. Die drei sind der Köder. Sie werden sterben. Aber Melissa zuerst.“
Die blauen Augen des Blonden schimmerten dunkel. Sie sah Sorge darin – Angst.
„Melissa darf auf keinen Fall dorthin gehen“, bat sie und fasste den jungen Mann am Arm.
„Zu spät. Sie sind vor über einer Stunde los.“
Ihr stockte der Atem. „Dann müsst ihr hinterher. Sie warnen. Domeniko lauert ihr auf. Zusammen mit einem Dutzend seiner Leute, mehreren Lupins und unzähligen Gefs.“
„Ben!“ Die Stimme der rothaarigen Frau klang dünn. „Wir können doch nich zulassen, dass er unsre Mel
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