Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
ergattern. Das Keuchen des großen Wolfes war schwer zu orten. Noch weniger, ob Domeniko weiterhin in seiner Nähe war. Er würde sich aber kaum den Anblick versagen wollen, wenn ich zwischen den Kiefern zermalmt wurde. Ich spähte in die Dunkelheit, suchte den Wald ab. So ein riesiger Brocken Fell und Fleisch konnte doch nicht verschwinden.
Tat er auch nicht. Nur dass ich kurzzeitig außer Acht gelassen hatte, dass er innerhalb des Waldes über die Baumkronen hinausragte.
Er biss die armdicken Äste über mir ab als wären es Strohhalme. Ich ließ mich an seiner Schulter hinuntergleiten, hielt mich am Fell seines Ellbogens fest und schwang mich zur empfindsamen Stelle hinter der Achsel. Hier war das Gewebe weich genug, um es mit den Nägeln aufzuschlitzen. Augenblicklich schnappte er nach mir wie nach einem lästigen Floh. Mir blieb nur, mich zu Boden fallen zu lassen und zu hoffen, dass er im Weiterlaufen nicht auf mich trat.
Gerade als ich mich wieder aufrichten wollte, spürte ich einen Luftzug über mich hinweggleiten und hörte einen dumpfen Aufprall auf dem Boden. Ich fuhr herum, stand in Kampfhaltung bereit und erkannte Dracon, der Domeniko abgefangen hatte, als er sich auf mich stürzen wollte. Mein dunkler Bruder blieb am Boden liegen, während der Lycanthrop schon wieder auf den Beinen stand und mit hämischem Grinsen auf mich losgehen wollte, da brachen Armand und weitere Vampire aus dem Unterholz hervor.
Ihre Kampfschreie drangen kaum bis zu mir durch. Ich eilte zu Dracon, drehte ihn auf den Rücken und erblickte mit Schrecken seinen aufgerissenen Bauch. Er zitterte. Als ich ihn auf meinen Schoß zog, quoll ein Sturzbach von Blut aus dem Torso.
„Nein! Oh nein, bitte!“ Ich wiegte meinen dunklen Bruder in den Armen und presste die Lippen auf seine Stirn. Sein Körper zitterte. So fest ich meine Linke auch auf die Wunde presste, das Blut rann mir zwischen den Fingern hindurch und mit ihm sein Leben.
„Eloin ist da“, jubelte Armand. Er war außer Atem, doch unverletzt. Angesichts der Tränen, die über mein Gesicht rannen, runzelte er die Stirn. Erst da registrierte er das Ausmaß von Dracons Verletzung. Ihm entfuhr ein französischer Fluch. Er streckte die Hand aus, doch Dracon packte seinen Arm mit erstaunlich viel Kraft und schüttelte den Kopf.
„Pass nur das nächste Mal auf sie auf“, flüsterte er, die Stimme heiser vor Schmerzen. „Denn ich werd wohl nicht mehr da sein.“
Er ließ Armand los, auf dessen Zügen ich Bestürzung sah. So sehr sich die beiden gehasst hatten, den Tod hatte er Dracon nie gewünscht.
Auch Lucien kam zu uns und war leichenblass, was für ihn mit seinem goldenen Wüstenteint ungewöhnlich war. Er kniete neben mir nieder und ergriff Dracons Hand, der seinem dunklen Vater tapfer in die Augen blickte.
„Pascal“, flüsterte Lucien.
Zwischen den beiden lief etwas ohne Worte ab. Ich sah, wie Lucien die kalten Finger seines Sohnes drückte und an seine Lippen führte. Erleichterung malte sich auf Dracons Zügen ab. Der Tod tilgte jede Schuld – und jeden Hass.
Mein Bruder lächelte mich an, entzog Lucien seine Hand und strich mir mit blutigen Fingern eine Strähne aus dem Gesicht. „Du wusstest doch, dass ich für dich sterben würde. Das hab ich dir doch gesagt.“
Ich hatte schon oft den Tod kommen sehen, doch nie so schnell wie bei ihm. Seine dunklen Augen wurden milchig, er erstarrte mit seinem letzten Atemzug. Mein Herz wurde schwer unter dem Wissen, das er für mich gestorben war und dass es tausend Dinge gab, die ich ihm hätte sagen wollen – sagen müssen – und nie gesagt hatte.
Lucien wandte sich ab und entfernte sich rasch. Vermutlich wollte er nicht, dass ich sah, wie tief es ihn traf. Doch nicht so kalt, wie er immer tat.
Domeniko, dieser Feigling, war nach Eloins Eintreffen geflohen. Von dem Fenriswolf fehlte jede Spur. Als wäre er nur ein Geist gewesen. Wie konnte so ein Riese einfach verschwinden?
Die Lycaner, die ihren jungen Fürsten begleiteten, stimmten aus Respekt ein Klagelied für Dracon an. Ihre Klänge woben einen geisterhaften Teppich, auf dem Dracons Seele hinübergleiten konnte. Schwermütig legten sie sich über uns, öffneten einen Riss zwischen den Welten, schwangen so stark in mir nach, dass ich fürchtete, mich ebenfalls darin zu verlieren. Erst Armands Hand holte mich zurück.
„Mel. Hör doch.“
Ich öffnete die Augen und lauschte. Die Lycaner waren verstummt, doch das Lied dauerte fort. Eine Kraft, jenseits
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