Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
blasseste Vorstellung besessen hatte, welche Kreaturen tatsächlich diese Welt bevölkerten. Meinesgleichen eingeschlossen. Vampire, Lycaner, Sapyrions oder Sougven waren Gestalten aus Schauermärchen und billigen Horrorfilmen gewesen. Nicht real. Nicht bedrohlich. Und heute kannte ich mehr Dämonen- als Menschenrassen und musste gerade erfahren, dass selbst die alten Mythologien mehr Wahrheit enthielten, als dieser Planet verkraften konnte.
Die Midgardschlange. Selbst ich mit meiner Zugehörigkeit zur Schattenwelt hätte ihre Existenz mit Überzeugung bestritten. Und nun war sie erwacht.
Immer mussten die Kleinen die Drecksarbeit machen. Egal, wer das Sagen hatte.
„Ohne uns könnten die doch alle einpacken“, schimpfte Ragnor vor sich hin und huschte mürrisch zwischen den Kabeln hindurch, schnupperte hier, horchte da. Seinen Sinnen entging nichts, und dank der Gabe, die seiner Gattung eigen war, verstand er spielend auch diese merkwürdige Sprache.
„Ah, was haben wir denn hier? Das ist neu.“ Er betastete die viereckige, flache Platte, die erst kürzlich in das Rechnergehäuse geschoben worden war. „Sehr interessant.“ Damit wollte man es schwieriger machen, die Sicherheitseinstellungen zu knacken. Pah, ein Klacks, das Ding unbemerkt außer Gefecht zu setzen. Aber hier ging es nicht darum, kleine Lücken zu schaffen. Alles musste gleichzeitig zusammenbrechen. Die völlige Kontrolle. Ragnor kicherte in sich hinein. Das war nach seinem Geschmack und linderte die Bitterkeit der Tatsache, dass er wie immer nur ein Handlanger war.
„Dieser Tölpel hat keine Ahnung, was er hier wirklich schützen soll. Aber einen prima Sündenbock wird er abgeben. Hoffentlich lassen sie ihn richtig schön leiden, wenn sie ihn ausquetschen und … ahhhh!“
Jemand packte ihn im Nacken und hob ihn hoch. Ragnor zappelte und wand sich, versuchte, den Angreifer zu beißen, aber der hatte seine Finger außer Reichweite und lachte so boshaft, dass es Ragnor kalt über den Rücken lief. Er gab seine Befreiungsversuche auf und hing schlaff in der Hand seines Häschers, blickte an dem breiten Brustkorb empor in ein kantiges Gesicht, das von dichten Bartstoppeln übersät war.
„Was haben wir denn hier? Eine Ratte, wie ich gesagt habe.“
Die Finger packten noch fester zu, Ragnor glaubte, seine Knochen knirschen zu hören. Er war so vorsichtig gewesen. Sollte er kurz vor dem Ziel etwa scheitern? Sein Herz pochte in der Brust wie ein Dampfhammer. Irgendeinen Ausweg musste es doch geben.
Unvermittelt ließ der Kerl los und Ragnor fiel unsanft auf den Boden. Autsch! Das tat weh. Vor Verblüffung vergaß er sogar, zu flüchten.
„Du bist unvorsichtig. Wenn dich der echte Rourke erwischt hätte, wär’s aus mit dir gewesen. Und mit Domenikos Plan.“
Der Sicherheitsmann verwandelte sich vor Ragnors Augen in seine wahre Gestalt. Wütend über die unnötige Grobheit fletschte Ragnor die Zähne.
„Der Mensch hätte sich nicht so anschleichen können. Da wäre mir das nicht passiert.“
„Ja, ja“, winkte der Gestaltwandler ab. „Und jetzt rück schon raus, was du gefunden hast, damit wir nicht noch mehr Zeit verschwenden. Diesem Tüftler, den die hierhergeholt haben, trau ich zu, dass er Fort Knox aus den Servern macht. Dann kommt keiner mehr rein. Der Kerl und seine Kollegen in Miami sind zu gut. Und ich glaube, er wird langsam misstrauisch.“
„Kein Wunder“, kicherte Ragnor. „Immerhin gehörte der mal zur Ashera.“
„Was?“
Der Schock im Gesicht des Gestaltwandlers war Balsam für Ragnors gekränkten Stolz. „Ich hab meine Hausaufgaben besser gemacht als die süße Ms. Field. Schätze, damit hab ich mir einen Bonus von Domeniko verdient. Ich liefere ihm den Schlüssel und einen Sündenbock gleich mit. Bis die Idioten von der Sicherheit dahintergekommen sind, dass sie den Falschen haben, hat Domeniko hier schon alles lahmgelegt.“
Er kringelte sich auf dem Boden vor Lachen, was sein Gegenüber leider nicht teilte, wie sein verkniffener Gesichtsausdruck verriet. Ragnor verdrehte die Augen und sprang wieder auf seine vier Füße. „Wo ist nur der Humor in dieser Welt hingekommen?“ Flink verschwand er zwischen den Serverschränken und kam kurz darauf mit ein paar Blättern zurück. „Steht alles drauf. Wie du sie hier rausschmuggelst, ist dein Problem, Kumpel.“
Der Gestaltwandler nahm wieder das Aussehen von Rourke ein. Ragnor fragte sich für einen kurzen Moment, was wohl aus dem echten geworden war,
Weitere Kostenlose Bücher