Ruf Des Dschungels
allein. Alle schoben und drängten, um als Erste an ihr Gepäck zu kommen. Keine bunte Kleidung, keine lächelnden Gesichter, keine fröhlichen Stimmen, nur kaltes Schweigen.
Die Zeit schien plötzlich Tempo aufzunehmen, alle waren in Eile, wie in einem endlosen Wettlauf. Wütend schob eine Frau ihren Wagen vor meinen und warf mir einen verärgerten Blick zu.
Nein,
dachte ich,
ich kann es nicht, ich kann hier nicht mehr leben.
Das ist nicht meine Welt, und sie wird es auch niemals sein.
Ich wollte weglaufen, aber ich wusste nicht, wohin. Es kam mir vor, als wäre meine Abreise nach West-Papua Anfang November, also vor gerade mal einem Monat, schon Jahre her. Nun war ich wieder hier, doch etwas war anders, irgendetwas hatte sich verändert.
Eisiger Wind schlug mir entgegen, als ich das Flughafengebäude verließ, ich zitterte vor Kälte. Die Wolken ließen nur wenige Sonnenstrahlen passieren, und in einem seltsamen Halbdunkel stieg ich ins Auto, um in eine Welt zurückzufahren, die mir fremd geworden war.
Ein paar Monate später saß ich an meinem Schreibtisch. Es war still im Haus, die Welt draußen war schneebedeckt. Ein phantastischer Anblick, doch die Schönheit meiner Umgebung berührte mich nicht. In Gedanken war ich wieder im Dschungel, in West-Papua.
Hunderte von Berichten und Zeitungsartikeln lagen vor mir. Ich hatte das Gefühl, an einer Wegkreuzung zu stehen – gehe ich mit dem, was ich weiß, an die Öffentlichkeit? Berichte ich der Welt, was ich gesehen habe? Mache ich bekannt, was ich bisher geheim gehalten habe?
All die Aktivitäten, von denen noch nicht einmal meine Eltern wussten. Eigentlich hatte ich noch ein paar Jahre verstreichen lassen wollen, bevor ich mich an die Öffentlichkeit wende, hatte warten wollen, bis meine Eltern ihre Arbeit bei den Fayu beendet haben, doch die Zeit drängte. Jeden Tag erreichten mich neue Berichte über Morde, die Dinge gerieten außer Kontrolle.
Ich öffnete meine E-Mails und entdeckte eine neue Nachricht von einem Freund. Als ich sie las, krampfte sich mein Herz zusammen. Ich griff zum Telefon und wählte eine ausländische Nummer.
»Hallo, ich bin’s, Sabine. Ich bin bereit. Bring mich zurück nach West-Papua.«
Es war Anfang März 2006 .
Und so kam es, dass ich einige Wochen später, an jenem Abend in Manokwari, als ich zusah, wie Herman in der Dunkelheit verschwand und auf eine ungewisse Zukunft zusteuerte, endgültig meinen Entschluss fasste.
Wenn dieser Mann sein Leben aufs Spiel setzte, um mir seine Geschichte zu erzählen, dann würde ich riskieren, niemals wieder zurückkehren zu können, niemals wieder im Kreise des Stammes sitzen zu können, den ich meine Familie nenne, niemals wieder die Vögel in den mir so vertrauten Bäumen zwitschern zu hören oder den Sonnenuntergang in dem Land zu bewundern, das meine Heimat ist.
Beim Rückflug nach Deutschland, als ich mich zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit von meiner Insel verabschiedete, fand ich endlich meinen inneren Frieden wieder. Denn ich hatte ein Ziel. Genauso wie die Papua gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit kämpften, würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um das Schweigen zu brechen, das wie ein düsteres Laken über ihnen hing, weil eine korrupte Wirtschaft und eine skrupellose Politik es so wollten.
Bislang hatte ich in aller Stille gekämpft, aus Angst, meine Eltern könnten vertrieben werden, aus Angst, ich könnte nicht mehr zu den Fayu zurückkehren. Aber meine Brüder und Schwestern sind nicht nur Fayu, sondern gehören einem viel größeren Volk an, einem Volk namens Papua. Und mit dieser Einsicht kehrte ich im April 2006 nach Deutschland zurück.
Ich setze mich an meinen Computer und beginne über alles zu schreiben, was ich gesehen habe, über alles, was ich gehört und empfunden habe. Und mit jedem neuen Kapitel sehe ich Gesichter vor mir, die Gesichter der Fayu, die Gesichter von Jon und Mama, von Herman, Reverend Socratez Sofyan Yoman, von Häuptling Noak und Thelis, Benny Wenda und G. Tommy. Die Gesichter der Studenten, die es gewagt haben, zu demonstrieren, und die sich jetzt versteckt halten, die Gesichter der namenlosen Zeugen und schließlich all der Kinder West-Papuas, die noch nicht geboren sind.
Ich kann nicht vorhersagen, ob dieses Buch etwas bewirken wird, denn niemand weiß, was die Zukunft bringt. Ich kann nur hoffen.
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21 Eine Wahl ohne jede Wahl – der »Act of No Choice«
Das New Yorker Abkommen
15 . August
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