Ruf Des Dschungels
Mut würde ich brauchen, anderes über diese Insel zu erzählen, als ich es bisher getan hatte – und damit vielleicht zu riskieren, dass meine Eltern des Landes verwiesen wurden!
Die Arbeit hier war ihr Lebenswerk. Sie hatten eine sichere Existenz hinter sich gelassen, um ein einfaches, hartes Leben im Dschungel zu führen. Jeder aber, der Kritik an der Regierung äußerte, wurde innerhalb von achtundvierzig Stunden aus Indonesien verbannt und durfte nicht zurückkehren, und so würde es auch ihnen ergehen, wenn ihre Tochter den Mund aufmachte. Doch ließ sich damit das Schweigen entschuldigen? Wie sollte ich noch in den Spiegel schauen, wie konnte ich mich noch als moralischen Menschen bezeichnen, wenn doch dieses Land, dem ich so viel verdankte, derart leiden muss? So viele Gedanken, so große Ungewissheit und so große Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn …
Die letzte Nacht war angebrochen. Am Morgen würde ich nach Bali abreisen und von dort mit dem Flugzeug zurück nach Frankfurt fliegen. Es war ein trauriger Abschied. Wir machten ein paar letzte Fotos, und schließlich musste ich Papa Lebewohl sagen.
Mit Tränen in den Augen sagte er mir, wie glücklich er sei, dass ich gekommen war, wie schön es gewesen sei, mit mir wie früher im Dschungel zu leben. Es brach mir fast das Herz, als ich die Tränen sah, die Liebe zum Dschungel spürte, die Papa und mich auf so besondere Weise verband. Doch die Zeit bleibt für niemanden stehen, sosehr wir auch bitten und flehen, sie setzt ihre unaufhaltsame Reise fort und nimmt alles mit sich, das Gute wie auch das Schlechte.
Als ich ins Flugzeug stieg, drehte ich mich noch ein letztes Mal um und betrachtete die vertrauten Berge in der Ferne. Dort endete die Stadt, dort begann der endlose Dschungel. Schau über den Horizont, folge dem glitzernden Fluss, wie er sich durch das dichte Grün windet, dann kommst du ins Land der Fayu.
Im Flugzeug weinte ich, zum letzten Mal. Meine Gefühle waren verbraucht, mein Geist war müde, mein Herz gebrochen. Ich spürte nichts, mir war alles egal, ich war sowieso in einer Welt gefangen, die mich nicht gehen lassen würde, gefangen durch die Liebe meiner Kinder, gefangen durch Visum und Staatsbürgerschaft. Es war eine seltsame Welt, dennoch war sie mein Schicksal.
Ich hatte diesen Weg vor vielen Jahren eingeschlagen und musste ihn nun bis zu Ende gehen.
Wir näherten uns Timika im südlichen Teil von West-Papua. Wieder starrte ich aus dem Fenster und staunte über das seltsame Phänomen, das wie ein großer grauer Fluss aussah, der sich einen Weg vom Horizont bis zum Meer bahnt. Auf gespenstische Weise war es schön. Plötzlich sagte neben mir eine Stimme in fast perfektem Englisch: »Das kommt alles aus der Freeport-Mine.«
Ich drehte mich zu dem Indonesier neben mir um.
»Was soll das heißen?«, fragte ich.
»Freeport baut in West-Papua seit vielen Jahren Rohstoffe ab. Es gibt hier große Gold- und Kupfervorkommen«, antwortete er.
Ich nickte ungeduldig, wollte eine Erklärung für das graue Band da unten.
»Was Sie da sehen, sind die Auswirkungen der Minenarbeiten. Es ist ein Abfallfluss, der über eine Strecke von dreißig Kilometern von den Bergwerken ins Meer fließt.«
Wir landeten und mussten die Maschine während des kurzen Aufenthalts verlassen. Ich sah mich um, alles wirkte so ärmlich. Es musste doch Anzeichen von Wohlstand geben, wenn das hier einer der größten Minenkonzerne der Welt war. Die Papua um mich herum sahen ärmer aus als die in Jayapura, die Gebäude waren baufällig. Ich nahm mir vor, die Angelegenheit bei meiner Rückkehr nach Deutschland näher zu erforschen.
Im Laufe der Jahre hatte ich immer wieder von Unruhen in dieser Gegend gehört, von Stämmen, auf deren Land Rohstoffe abgebaut und die nicht entschädigt worden waren, deren Lebensraum durch die Minenkonzerne zerstört wurde und die wenig Hilfe bekamen. Jetzt sah ich zum ersten Mal, wie schlimm es tatsächlich stand. Es ist eine traurige Welt, in der wir leben.
Je länger ich unterwegs war, desto weniger konnte ich es erwarten, meine Kinder endlich wiederzusehen. Es war noch früh am Morgen, als ich in Frankfurt landete. Der Himmel war mit dunklen Wolken verhangen, alles wirkte unglaublich farblos und leblos, so schrecklich kalt. Ich bahnte mir meinen Weg durch die endlosen sterilen Gänge im Flughafengebäude und fand schließlich die Gepäckausgabe. Mitten in der Menschenmenge fühlte ich mich plötzlich völlig
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