Ruf Des Dschungels
und her.
Ich musste nachdenken, musste kämpfen. Wieso war ich hier? Was hoffte ich in meiner magischen Kindheit wiederzufinden, die nun schon so viele Jahre zurücklag? Suchte ich nach meiner wahren Identität? Oder lief ich vielmehr vor meiner Identität davon? Wovor lief ich denn weg? Vor der Vergangenheit? Oder gab es da noch etwas anderes?
Die Vergangenheit ist etwas Sonderbares. Sie formt und treibt uns in so viele Richtungen, sie wird sichtbar in unserem Denken, unserem Handeln, unserer Lebenseinstellung. Manche Menschen verleugnen sie, andere sehnen sich nach ihr, und einige gehen in die Vergangenheit zurück, um die Gegenwart besser zu verstehen. Die Gegenwart, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Vergangenheit … irgendwo dazwischen liegt die Antwort.
Die Klagelieder waren verstummt, die Welt um mich herum wurde still, ein sanfter Wind wehte durch das Dorf, er streifte die Bäume, die Hütten mit ihren Palmdächern, das kleine Holzhaus, drang durch das Fenster zu mir herein. Und mit ihm die Zeit. Ich schloss die Augen, vernahm das Rascheln des Laubes, das Zirpen der Grillen, bis ich spürte, wie der Rhythmus der Nacht zu schlagen begann. Ja, da war sie, die Vergangenheit, so fern und doch so nah.
Fünf Monate später, am 11 . April 2006
Ich betrete einen winzigen Raum, in dem ein Holzschreibtisch an einer Wand steht, darauf ein Computer, auf dem sich Prospekte, Zettel und Bücher stapeln. An der gegenüberliegenden Wand ein dunkles Sofa mit einem niedrigen Tisch davor. Durch die Jalousien dringen vereinzelte Sonnenstrahlen herein und erhellen den Raum.
Ein Mann sitzt hinter dem Schreibtisch und erhebt sich, um mich zu begrüßen – ein großer, gut aussehender Papua mit grauem Haar, glatter dunkler Haut und Brille, der Autorität ausstrahlt. Er schließt die Tür hinter mir, wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster und bietet mir einen Platz auf dem Sofa an. Im Raum ist es unerträglich heiß; die Sonne brennt schon den ganzen Tag unerbittlich auf das Aluminiumdach.
Der Mann setzt sich und mustert mich so eindringlich, dass ich mich förmlich unter seinem Blick, unter den fragenden, auf mich gehefteten Augen winde. Eine unangenehme Stille macht sich breit. Ich räuspere mich, schlage die Beine übereinander und straffe den Rücken in dem Versuch, älter zu wirken, als ich mich momentan fühle.
»Was möchten Sie denn von mir wissen?«, bricht er endlich das Schweigen.
»Ich bin hier, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren«, lautet meine Antwort.
Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, atmet tief ein und beginnt zu erzählen. Über mir tickt eine Wanduhr, von draußen dringen Stimmen herein, doch ich nehme es kaum wahr, die Zeit scheint stillzustehen. Auch den Verkehrslärm von der nahe gelegenen Straße bemerke ich nicht. Mich erreicht nichts außer der Stimme eines Mannes, der mir eine Geschichte erzählt. Eine Geschichte voller Betrug, Leid, Kampf und Streben nach Freiheit.
»Ich heiße Reverend Socratez Sofyan Yoman. Als einer der Kirchenoberen der Baptisten in West-Papua ist es meine Pflicht, Zeugnis abzulegen und auszusprechen, was in diesem Land vor sich geht, um Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden und die Gleichheit aller Menschen zu wahren. Deshalb äußere ich mich hier zur Vergangenheit dieses Landes und erzähle von den Ungerechtigkeiten, die West-Papua und seiner Bevölkerung angetan wurden. Denn man hat unsere Rechte und unsere Würde mit Füßen getreten.
Dieses Land gehört uns, seit Jahrtausenden haben unsere Vorfahren hier gelebt, und hier befindet sich unser Erbe. Doch man hat uns unser Land gestohlen, und seit nunmehr vierzig Jahren kämpfen wir darum, unsere Rechte zurückzubekommen, seit vierzig Jahren kämpfen wir um Gerechtigkeit und Frieden.
West-Papua ist die westliche Hälfte der Insel Neuguinea. Gemeinsam mit Papua-Neuguinea im Ostteil bildet unser Land die zweitgrößte Insel der Welt. Papua-Neuguinea, einst eine Kolonialmacht der Deutschen und Briten, wurde später zu Australisch Guinea und erlangte im Jahr 1975 seine Unabhängigkeit. Unser Schicksal war jedoch ein anderes.
Seit vorgeschichtlichen Zeiten, seit der letzten Eiszeit, hat die Insel uns gehört. Wie es genau dazu kam, ist nicht bekannt, doch man sieht uns an, dass wir keine Asiaten sind.
Im Laufe der Jahrtausende hat sich bei uns ein großer Reichtum an Sprachen und Kulturen entwickelt. Allein in West-Papua gibt es über 250 Sprachen bei einer einheimischen Bevölkerung von etwa 1 ,
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