Ruf Des Dschungels
vorbereiteten, passierte etwas Unvorhergesehenes. Eines Abends gab es einen großen Sturm. Die ganze Gruppe jüngerer Männer saß bewaffnet vor der Veranda der Schule, und sie hatten schreckliche Angst. Denn sie erinnerten sich an ein lang zurückliegendes Geschehen. In einer ganz ähnlichen Nacht, in der der Regen in Strömen fiel und es nur so blitzte und donnerte, saßen sie mit ihren Stammesangehörigen vor einem kleinen Feuer. Plötzlich brach eine Schar von Dou-Kriegern aus dem dunklen Urwald und griff die Fayu an. Es gab ein schreckliches Blutbad in dieser Nacht, viele verloren ihre Mütter, Väter oder Geschwister. Es war ein so schreckliches Gemetzel, dass sie es so schnell wie möglich aus ihrem Gedächtnis verdrängten.
Doch an diesem Abend, als der Sturm über sie hinwegfegte, kam die Erinnerung wieder. Sie saßen gemeinsam um das Feuer und redeten über die alten Zeiten, als der Krieg noch ihr Dasein beherrschte. In welcher Angst sie damals waren, wie sehr der Hass ihr ganzes Leben bestimmte, als das Feuer der Rache noch hell loderte. Irgendwann begannen sie zu überlegen, was für Auswirkungen ihr Plan haben würde. Was wäre damit gewonnen? Mit Sicherheit würden die anderen Dorfgemeinschaften der Dou nicht tatenlos zusehen. Im Gegenteil, sie würden sich gegen die Fayu zusammenschließen, und der einst beigelegte Krieg würde von neuem ausbrechen.
Die Jüngeren wurden zunehmend unsicher, und am nächsten Tag fingen sie an, gegen die Älteren zu argumentieren. Sie wollten nicht, dass ihre Kinder das erleben mussten, was sie damals erlebt hatten. Die Familien würden wohl kaum unverletzt bleiben, sollte es tatsächlich zu einem neuen Krieg kommen. Hatten sie nicht am eigenen Leib erfahren, was Hass anrichten kann? Hatte ihre Stammesgemeinschaft nicht jahrelang dafür gekämpft, diesen Teufelskreis der Kriege zu durchbrechen? Und hatten sie nicht ihr Ziel erreicht? Das alles wäre dann umsonst gewesen, und sie wären wieder genau an demselben Punkt angelangt, an dem sie einst gewesen waren: gefangen in einem Krieg, der ihr Volk beinahe ausgelöscht hätte.
›Nein‹, sagten die Jungen, ›wir wollen keinen Krieg, wir wollen auch keinen Hass mehr. Wir wollen, dass unsere Kinder glücklich und in Frieden aufwachsen.‹ Bis in die frühen Morgenstunden diskutierten sie.«
Papa hörte für einen Moment auf zu sprechen. Ich sah ihn an und bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Nach einigen Minuten fuhr er fort:
»Und jetzt stand ich dort mit Häuptling Kologwoi, genau an jener Stelle, an der sich der verborgene Pfad befand. Das war vielleicht ein Gefühl! Plötzlich nahm Häuptling Kologwoi meine Hand in seine und sagte: ›Klausu, als ich am nächsten Morgen in den Himmel hinaufsah, da habe ich einen Sonnenstrahl bemerkt, der genau auf mein Dorf herunterschien. In jenem Moment habe ich gespürt, wie Afou Guti, der große Vater, in mein Herz kam. Da ist die Flamme des Hasses in mir erloschen, und wir haben unseren Plan nicht in die Tat umgesetzt.‹
Sabine, kannst du dir auch nur annähernd vorstellen, was passiert wäre, wenn die Fayu es doch getan hätten? Ein derartiges Massaker wäre nicht lange unentdeckt geblieben. Mit Sicherheit hätte das Militär sich eingeschaltet, und eine neue Art von Krieg wäre ausgebrochen. Ein Krieg, der den Fayu nicht die geringste Chance gelassen hätte. All jene, die wir so sehr lieben, die ein Teil unserer Familie geworden sind, wären heute nicht mehr am Leben. Mein Herz wäre ohne Zweifel mit ihnen gestorben.«
Unvermittelt hielt Papa inne und drehte sich zu mir um. Er sah mir direkt in die Augen, als er mich fragte: »Sabine, was hättest du getan? Hättest du den Plan in die Tat umgesetzt, oder hättest du ihn in deinem Herzen begraben und den Dou verziehen?«
Ich fixierte die Planken vor mir, um seinem Blick auszuweichen. »Ich hätte ihn in die Tat umgesetzt«, antwortete ich schließlich.
»Sabine«, sagte Papa und musterte mich ernst, »was man sät, das erntet man. Wenn du Hass säst, wirst du Hass ernten. Säst du dagegen Vergebung, so wirst du auch Vergebung ernten.«
»Ich weiß, Papa«, verteidigte ich mich. »Aber wenn ich schon auf die Leute, die schlecht über mich reden oder gemeine Artikel in der Zeitung schreiben, so wütend bin, wie viel mehr würde ich da diejenigen hassen, die meine Familie umgebracht haben?«
»Das kann ich schon verstehen«, erwiderte Papa. »Aber in den Jahren im Dschungel habe ich gelernt, dass wahre Stärke
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