Ruf Des Dschungels
miteinander gesprochen, und nun redet Jon englisch mit perfektem amerikanischem Akzent!
Unsere Anrufe werden häufiger, bis ich Jon nach einigen Monaten einlade, mich zu besuchen.
Vier Wochen später, es muss vor etwa sieben Jahren gewesen sein, steht er tatsächlich vor meiner Tür. Was für eine Freude, ihn wiederzusehen! Ein erwachsener Mann, mit dem gleichen gewinnenden Lächeln wie früher. Er sieht aus wie ein typischer Papua, nicht allzu groß, aber kräftig gebaut. Er hat in Hawaii studiert und seinen Abschluss in Politik- und Wirtschaftswissenschaften gemacht.
Es ist die Ironie des Schicksals: Ich bin als Weiße im Dschungel aufgewachsen, während er als Papua die meiste Zeit seines Lebens in der westlichen Welt verbracht hat. Doch offenbar haben wir beide auch etwas Wesentliches gemeinsam – die große Liebe zu West-Papua.
Am letzten Abend vor Jons Abreise sitzen wir noch bei einem Glas Wein zusammen und reden.
Unser intensives Gespräch wird eine entscheidende Wende in meinem Leben einleiten.
»Sabine, woher kommst du eigentlich?«
»Wie meinst du das?«
»Woher kommst du deiner Meinung nach? Aus Deutschland, aus der Schweiz?«
»Jon, bitte frag mich so was nicht.«
»Weißt du, was gerade in West-Papua vor sich geht?«
»Was genau meinst du?«
»Sabine, unsere Leute sterben.«
»Davon will ich nichts wissen. Und überhaupt, was hat das mit mir zu tun?«
»Na ja, es war immerhin deine Kindheit. Warum sprichst du nie darüber, was du erlebt hast und wo du wirklich hingehörst?«
»He, wer will das schon wissen? Wer bitte schön interessiert sich dafür, wo ich hingehöre? Davon abgesehen, warum sollte ich?«
»Weil ich weiß, dass dein Herz für West-Papua schlägt. Ich merke es an deinem Blick, an deiner Stimme.«
»Jon, das ist nicht mein Krieg. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn ich mit dem, was ich weiß, an die Öffentlichkeit gehe? Meine Eltern würden ziemlich sicher aus dem Land geworfen. Und das würde mein Vater mir niemals verzeihen.«
»Sabine, was glaubst du denn, wie lange die Fayu noch sicher sein werden? Ist ihr Land denn nicht über und über mit wertvollen Bäumen bedeckt? Warum benimmst du dich so unglaublich naiv?«
»Ich bin nicht naiv! Hör jetzt auf, ich will nicht darüber reden. Ich habe viele Jahre gebraucht, um endlich ein bisschen Stabilität in mein Leben zu bringen. Warum sollte ich all das wieder aufgeben, noch dazu für etwas derart Aussichtsloses? Schau dir doch nur mal all die Leute an, die erfolgreich an die Öffentlichkeit gegangen sind: Sie sind entweder erschossen oder vergiftet worden. Du legst dich da mit Mächten an, die deutlich stärker sind, als wir es jemals sein könnten.«
»Das mag sein, aber ich versuche es zumindest. Sabine, es gibt nur wenige Menschen, die dich so gut kennen und verstehen wie ich. Und ich weiß, dass du sowohl das Talent als auch die Kraft hast, gewisse Dinge publik zu machen.«
»Ich habe keine Kraft mehr zu kämpfen, Jon. Ich will nur noch meinen Frieden. Ich will endlich zur Ruhe kommen.«
»Du weißt genauso gut wie ich, dass das nie der Fall sein wird. Du bist wie ich, gefangen zwischen zwei Welten, zwei Kulturen. Du kannst ja noch nicht mal die simple Frage beantworten, woher du eigentlich kommst und wohin du gehörst. Warum? Wovor rennst du eigentlich davon?«
»Jon, hör auf. Ich muss auch an meine Kinder denken. Was ist mit ihnen?«
»Was ist mit all den Kindern aus Papua, die keine Zukunft haben? Deine Kinder werden zur Schule gehen und ihren Weg machen. Aber welche Aussichten haben die Kinder in West-Papua? Keine.«
»Und was kann ich daran ändern? Wer bin ich denn? Ein Niemand in dieser mir fremden Welt. Wie soll ich für die Zukunft kämpfen, wenn ich die letzten Jahre damit verbracht habe, meine Vergangenheit zu verleugnen?«
»Warum verleugnest du sie?«
»Weil es in diesem Teil der Welt niemand akzeptiert, wenn man anders ist als die anderen. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in den vergangenen Jahren alles durchgemacht habe. All der Schmerz und die Ablehnung. Wie sehr die Menschen auf mich herabgesehen haben, nur weil ich nicht so reagiert oder gehandelt habe, wie ich es ihrer Meinung nach hätte tun sollen.«
»Warum bist du dann nie zurückgekehrt?«
»Wegen meiner Kinder. Ich hätte sie nicht mitnehmen können, weil ich mir mit ihrem Vater das Sorgerecht teile.«
»Wofür lebst du eigentlich, Sabine?«
»Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, was ich hier eigentlich
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