Ruf Des Dschungels
sich nicht in Rache zeigt, sondern in Vergebung. Wahre Kraft schöpft man nicht aus Kriegen, sondern aus der Liebe. Und so haben wir dir und deinen Geschwistern beizubringen versucht, dass es die Liebe ist, die das Böse überwindet. Sicher ist es die schwerste Hürde im Leben, genau diejenigen zu lieben, die dich hassen, ausgerechnet denjenigen Gutes zu tun, die dich schlecht behandeln, und all jenen zu vergeben, die dir unrecht tun, doch genau daraus schöpfst du eine unbezwingbare Stärke.«
Häuptling Kologwoi
Wir waren inzwischen umgekehrt und wieder im Dorf angekommen. Ich blieb einen Moment stehen und betrachtete die Szenerie vor mir. Die Frauen waren dabei, alles für den Abend vorzubereiten. Die Kinder spielten Fangen, ein Spiel, das mein Bruder Christian und ich ihren Eltern vor Jahren beigebracht hatten. Ihr Lachen erfüllte die Luft.
Da fiel mein Blick auf eine Gruppe streitender Männer. Wie Kinder sprangen sie immer wieder vor und zurück, und ein jeder versuchte den anderen zu übertönen. Offenbar saß Nakire auf etwas, das er um keinen Preis teilen wollte, und die anderen versuchten ihn hochzuziehen. Ja, in mancherlei Hinsicht benehmen sie sich wirklich wie kleine Kinder. Doch sie haben eine unglaubliche Kraft, die Kraft der Vergebung.
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9 Jon
I n dem Jahr, als unsere Familie nach Indonesien zog, lernte ich einen Jungen namens Jon [3] kennen. Unsere Eltern waren sich bei einer Versammlung in Jayapura begegnet, und wenig später kamen auch wir Kinder zusammen.
Er war ein hübsches Kind mit großen dunklen Augen, samtener Haut und wuscheligem Lockenkopf. Doch letztlich verliehen ihm vor allem sein breites Grinsen und sein Charme etwas Einzigartiges. Im Laufe der Jahre begegneten wir uns immer mal wieder. Bei jedem Treffen musterten wir uns zuerst eingehend, um zu sehen, wie sich der andere verändert hatte, und dann erst gingen wir hinaus zum Spielen.
Als Jon nach Danau Bira umzog, um weiter Englisch zu lernen, verbrachten wir unsere Freizeit damit, im See zu schwimmen und unsere faszinierende Umwelt zu erkunden. Alles war voller Abenteuer, und unsere Phantasie kannte keine Grenzen. Wir stellten uns vor, Indianer zu sein, die sich in dieser geheimnisvollen Welt verlaufen hatten und mit dem überleben mussten, was die Natur ihnen bot. Schon als Kind beneidete ich Jon um seine dunkle Haut, denn er war ein Papua. Mit meiner hellen Haut hatte ich nämlich beim Spielen immer das Nachsehen, weil ich mich im Unterholz nur schwer verstecken konnte.
Je älter wir wurden, umso weniger Zeit verbrachten wir miteinander. Meine Eltern siedelten mit mir und meinen Geschwistern zu den Fayu über, und unsere Besuche in Danau Bira wurden immer seltener. Irgendwann war dann der Tag gekommen, an dem Jon mir erzählte, dass er das Land bald verlassen würde. Seine Eltern zogen nach Jakarta, in die Hauptstadt Indonesiens. Die Nachricht machte mich traurig, und Jon musste das gespürt haben. Er umarmte mich und sagte, dass wir uns eines Tages sicher wieder begegnen würden. Kurz darauf reiste er ab.
Die Zeit verging, und bald war ich mit anderen Dingen beschäftigt. Zunächst erreichten mich sporadisch noch Nachrichten über seine aktuellen Aufenthaltsorte, doch auch das hörte irgendwann auf. Das Letzte, was ich von ihm erfuhr, war, dass er in die Vereinigten Staaten gegangen war.
Ich verließ West-Papua im Alter von siebzehn Jahren und wurde in eine Welt hineingeworfen, die ich nicht verstand. Eine Welt, die mir komplett fremd war und die mir Angst machte. Viele Jahre haderte ich damit, mich an diese Kultur und Lebensart anzupassen, die mir nicht nur meine Identität, sondern auch mein Selbstwertgefühl zu rauben drohten. Und ausgerechnet in diesen dunklen Jahren tauchte plötzlich der kleine Junge aus meiner Vergangenheit wieder auf.
Es beginnt mit einer E-Mail, deren Kopfzeile lautet: ein Freund aus Danau Bira. Wie gebannt starre ich auf die kurze Nachricht, und auf einmal steigen lange verdrängte Erinnerungen in mir auf. Ich antworte, und bald tauschen wir die üblichen Neuigkeiten aus, Familie, Kinder, Scheidung, Todesfälle und so fort. Im Gegensatz zu mir ist Jon, der in den USA lebt, noch unverheiratet und hat auch keine Kinder. Wir schreiben uns in immer kürzeren Abständen, und bald tauschen wir auch Telefonnummern aus.
Eines Tages rufe ich ihn an. Doch die Stimme, die ich am anderen Ende der Leitung höre, klingt nicht so, wie ich sie in Erinnerung habe. Als Kinder haben wir indonesisch
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