Ruf Des Dschungels
ihm, das zu tun, was unter den Fayu früher einmal sehr verbreitet gewesen war: die so sehr begehrte Adia ihrem Mann zu stehlen.
Nach alter Tradition besaß der Ehemann daraufhin das Recht, die Entführung seiner Frau zu rächen, indem er den Dieb umbrachte. Aber Tuare wusste, dass sich die Zeiten geändert hatten, die Morde der Vergangenheit angehörten und Abusai keine Rache üben würde.
Die schöne Adia …
Einige Wochen später bahnte sich Babu-Bosa in tiefer Dunkelheit einen Weg durch den Dschungel bis zur Hütte von Abusai und Adia. Er wartete, bis die beiden eingeschlafen waren, schlich ins Innere und schnappte sich Adia. Dabei hielt er ihr den Mund zu, damit sie nicht losschrie, und zerrte sie in den schützenden Dschungel.
Die Reise zurück zu seiner Hütte dauerte zwei volle Tage, und Adia folgte ihm die ganze Zeit, ohne ein Wort zu sprechen. Während sie unterwegs waren, bekam Babu-Bosa ein schlechtes Gewissen. Ihm wurde plötzlich bewusst, was er da eigentlich getan hatte. Zerknirscht brachte er Adia zur Hütte ihrer Eltern, entschuldigte sich mehrfach und versicherte ihnen, dass er ihre Tochter zu keiner Zeit berührt habe. Aus Scham über das, was er getan hatte, hielt sich Babu-Bosa in den kommenden Monaten von größeren Stammesversammlungen fern.
Doch dann ereignete sich etwas, womit niemand gerechnet hatte und was noch nie zuvor geschehen war. Anstatt zu ihrem Mann zurückzukehren, wie es die Tradition verlangt hätte, rannte Adia von ihren Eltern weg. Zum großen Erstaunen der Stammesmitglieder, die natürlich bestens über die Ereignisse Bescheid wussten – schließlich können die Fayu kein Geheimnis für sich behalten –, machte sie sich auf den mehrere Tage währenden Fußmarsch zu Babu-Bosas Hütte und ernannte sich kurzerhand selbst zu seiner neuen Ehefrau.
Dies sorgte für großen Aufruhr unter den Fayu, und niemand wusste, wie er mit der neuen Situation umgehen sollte. Wie sollten sie einen Dieb bestrafen, wenn sein Diebesgut aus eigenem Willen zu ihm zurückkehrte?
Wochen vergingen, ohne dass eine Entscheidung fiel, und so blieb Adia an der Seite des Mannes ihrer Wahl.
… und ihr Auserwählter Babu-Bosa
Bis zum heutigen Tag leben sie nun zusammen und teilen sich ein Haus mit Tuare, seiner Frau Doriso-Bosa und ihren Kindern. Mir war bereits aufgefallen, dass die Beziehung zwischen Doriso-Bosa und Adia sehr innig war. Adia übernahm die Rolle der jüngeren Schwester, half bei der Versorgung der Kinder, sammelte Holz und Nahrung. Adia und Babu-Bosa wirkten glücklich und sorglos, sie schienen das Leben und die verschiedenen Alltagstätigkeiten zu genießen. Dennoch zeigten die beiden ihre Zuneigung nie in der Öffentlichkeit – jedenfalls habe ich das nie gesehen.
Adia war die erste Frau bei den Fayu, die sich ihren Ehemann selbst ausgesucht hat. Dies ließ die sonst so rigiden Traditionen der Alten ins Wanken geraten, gab Anstoß zu einschneidenden Änderungen, was die Rechte der Stammesfrauen anging. Sie fingen an, ihre eigenen Interessen zu vertreten, auch auf anderen Gebieten als der Wahl des Ehemanns. Und selbst wenn die Dorfältesten auf Adia heruntersahen, ihr Verhalten zeigte, dass Zeit und Traditionen sich verändern, sogar an diesem abgelegenen Ort der Welt. Ein neues Zeitalter brach an, und die oft so starre, unnachgiebige Art, die das Leben der Fayu lange Jahre bestimmt hatte, wich nun neuen Ideen und Sichtweisen.
Nach alter Tradition wurde ein Mädchen heiratsfähig, sobald es die Pubertät erreichte, also im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren. Jungen dagegen galten als bereit für die Ehe, sobald ihnen der erste Bartflaum wuchs. Im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen feierten die Fayu die Heirat zwischen Mann und Frau nicht mit einem großen Fest, einer Mitgift und besonderen Zeremonien. Die Eltern gaben ihre Tochter einem Mann, den der Vater zuvor ausgesucht hatte.
Normalerweise widersetzten sich die Töchter nicht, und nach außen schien alles immer sehr harmonisch. Doch was, wenn ein junger Mann sein Herz an eine bestimmte Frau verloren hatte und sie oder ihr Vater nicht einverstanden war? An dem Punkt begannen dann die Schwierigkeiten, da der Mann jetzt versuchte, die Frau zu stehlen. (So lautet auch die genaue Übersetzung des Wortes Heirat in der Sprache der Fayu: der »Diebstahl einer Frau«.)
Meine Familie und ich hatten in der Vergangenheit immer wieder mitbekommen, wie Väter ihren Söhnen auftrugen, ein Auge auf die Schwester zu haben, um
Weitere Kostenlose Bücher