Ruf Des Dschungels
war wie damals Faisa. Plötzlich hörten wir Schreie, und Sophia-Bosa sprang panisch auf. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie damals, Nakires Bruder auf uns zurennen, Pfeil und Bogen schussbereit in der Hand. Er war deutlich gealtert und hatte bereits eine Frau in seinem Alter.
Überall ertönten Warnschreie, und meine Gedanken begannen zu rasen, als mir klar wurde, dass mir nur wenige Sekunden blieben, um zu reagieren. Sollte ich mich vor Sophia-Bosa stellen und ihr so die Flucht ermöglichen, oder sollte ich mich lieber aus der Schusslinie entfernen? Noch bevor ich mich bewegen konnte, tauchte Fusai hinter Nakires Bruder auf und umschlang ihn mit beiden Armen, um ihn zurückzuhalten. Diesen Mut hätte früher keine der Frauen aufgebracht. Sie rief Sophia-Bosa zu, sie solle losrennen. Panisch stürmte das Mädchen auf den Dschungel zu.
Nakires Bruder wand sich, stieß Fusai von sich und stürzte sich auf sie. Nun mischten sich einige andere ein und versuchten ihn zu beruhigen. Doch er war völlig außer sich, gab unverständliche Laute von sich und zielte mit seinem Pfeil auf Babu-Bosa und Bare, die Fusai zu Hilfe gekommen waren.
Fusai versuchte ihm den Pfeil aus den Händen zu reißen – vergeblich, niemand konnte Nakires Bruder beruhigen. Stattdessen richtete er seine Wut immer mehr gegen die Beschwichtiger.
Genau in diesem Moment kam Papa aus dem Haus gerannt. Häuptling Kologwoi war nicht da, und der Nächste in der Reihe der Dorfältesten war er. Papa lief entschlossen direkt auf Nakires Bruder zu und wich auch nicht zurück, als dieser seinen Pfeil auf ihn richtete. Stattdessen ging Papa immer weiter und redete beruhigend auf ihn ein. Als er Nakires Bruder erreichte, legte er die Arme um ihn und versuchte ihn mit dieser Berührung zu trösten. Schließlich nahm er ihm Pfeil und Bogen aus der Hand, gab beides Fusai und zog ihn mit in sein Haus. Etwa eine Stunde lang war alles ruhig, und als Nakires Bruder wieder ins Freie trat, schien er entspannt und ganz der Alte. Nicht das geringste Anzeichen von Ärger oder Aggression war mehr zu spüren.
Ich ging hinein und fragte Papa, wie so etwas zum zweiten Mal passieren konnte und weshalb niemand etwas unternommen hatte, um Nakires Bruder aufzuhalten. Doch wie so oft im Leben hatte auch diese Geschichte eine andere Seite. Papa erklärte mir, dass Nakires Bruder wegen seiner Behinderung sein Leben lang schlecht behandelt worden war. Er war nicht nur taub und damit unfähig zu sprechen, sondern auch geistig zurückgeblieben, wofür aber niemand jemals Verständnis oder Mitgefühl aufgebracht hatte. So war er zum Außenseiter geworden.
Papa hatte nun nichts anderes getan, als ihm etwas zu essen gemacht und ihm gut zugeredet. Mehr war nicht nötig gewesen, um ihn zu beruhigen, und Papas Ansicht nach war die ganze Aktion nichts anderes gewesen als der Versuch, die Aufmerksamkeit zu erhalten, die er sich so sehnlich wünschte.
Das Leben im Dschungel ist wahrlich nicht einfach für diejenigen, die in dieser kleinen Gemeinschaft nicht voll einsatzfähig sind. Als Kind hatte mich dieses Zusammenspiel zwischen den Stammesangehörigen und die Frage, wie ihre Gesellschaft eigentlich funktioniert, nicht weiter interessiert. Ich war glücklich gewesen, weil ich mir das Beste aus beiden Welten nehmen konnte. Einerseits war ich nicht in die blutigen Auseinandersetzungen verwickelt, von denen auch die Kinder bei den Fayu nicht verschont blieben. Andererseits lebte ich frei wie ein Fayu-Kind, war in keinerlei System eingebunden, hatte keine Pflichten außer den täglichen Schularbeiten, denn die Jugendlichen dort haben bis zu ihrer Hochzeit eigentlich keine Aufgaben in der Gemeinschaft.
Von morgens bis abends hatten meine Geschwister und ich tun und lassen können, was wir wollten – die Umgebung erkunden und mit allem spielen, was die Natur uns bot. Für die Kinder der Fayu gab es da natürlich eine Kehrseite, die ich erst jetzt wahrnehmen konnte, da ich als erwachsene Frau und Mutter einen geschärften Blick für diese Gesellschaft entwickelt hatte. Die Kinder waren hier allzu sehr auf sich gestellt, ohne einen Erwachsenen, der ihnen etwas über das Leben hätte beibringen können. Wie gesagt, die einzige Aufgabe, die sie erfüllen mussten, war zu überleben, bis sie schließlich heirateten.
Ernsthaft blickendes Fayu-Kind
Besonders auffallend war, wie sich die ganz kleinen Kinder, die noch gestillt wurden und noch nicht laufen konnten, verhielten. Sie lachten nie und
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