Ruf Des Dschungels
schienen auch sonst keinerlei soziale Fähigkeiten entwickelt zu haben. Sie saßen bloß auf dem Schoß ihrer Mutter oder wurden so lange herumgetragen, bis sie auf zwei Beinen gehen konnten. Bis heute habe ich noch nicht ein Kind der Fayu krabbeln sehen.
Früher war mir das völlig normal vorgekommen, und als vor vierzehn Jahren meine älteste Tochter Sophia auf die Welt kam, trug ich sie den ganzen Tag herum, wie ich es bei den Fayu-Frauen gesehen hatte. Bei einer der üblichen Routineuntersuchungen fragte mich der Kinderarzt, ob meine Tochter schon krabbeln konnte.
Zutiefst erstaunt sah ich ihn an und antwortete: »Wieso sollte sie krabbeln? Ich trage sie doch!«
Nachdem er mir geduldig erklärt hatte, dass Krabbeln sehr wichtig für die Gehirnentwicklung sei, ging ich wieder nach Hause.
Meine Schwester Judith war damals gerade zu Besuch. Erstaunt erzählte ich ihr, was der Arzt gesagt hatte, und sofort legten wir die kleine Sophia auf den Teppich und warteten darauf, dass sie anfing zu krabbeln. Nach einer halben Stunde meinte Judith, dass mit ihr wohl etwas nicht stimme. Panisch brachte ich meine Tochter am nächsten Tag wieder zum Kinderarzt.
Der schüttelte den Kopf über diese seltsame Frau und ihr Kind. »Kinder müssen das Krabbeln
lernen
«, erklärte er mir. »Und das braucht Zeit.«
Nach einiger Zeit war es Sophia tatsächlich gelungen, und ich war erleichtert, dass ich sie nicht mehr die ganze Zeit herumtragen musste. Schließlich wurde sie mit jedem Tag schwerer.
Nach zwei Töchtern und zwei Söhnen bin ich nun eine Expertin geworden, was das Großziehen von Kindern betrifft. Und bei allem Glück, das ich als Kind bei den Fayu erleben durfte, bin ich doch dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, meine eigenen Kinder in einem Krankenhaus zu bekommen – und auch später medizinisches und psychologisches Wissen über Kinder in Anspruch nehmen zu können. In der Gesellschaft der Fayu ist das Leben für kleine Kinder keineswegs einfach.
Bei meiner Rückkehr wunderte es mich nun, warum diese kleinen Kinder weder lachten noch sonst irgendwelche Emotionen zeigten – außer Weinen natürlich. Bis ein Kind laufen kann, hängt es an der Brust seiner Mutter und wird unaufhörlich gestillt. Es schläft in Mutters Armen, wird in Mutters Armen gefüttert, und wenn es ein bestimmtes Alter erreicht hat, stellt die Mutter es auf die Füße und stützt es so lange, bis es allein laufen kann. Auch dann bleibt das Kind noch in nächster Nähe der Mutter, bis es etwa fünf Jahre alt ist. Danach wird es hinaus in die Welt geschubst; oft dann, wenn wieder einmal ein Geschwisterchen angekommen ist und die Frau ihre Aufmerksamkeit auf das Neugeborene lenkt.
Kind an der Mutterbrust (das helle Haar zeugt von Mangelerscheinungen)
Das Erstaunliche daran ist, dass diese Kleinkinder nun innerhalb kürzester Zeit unglaubliche soziale Fähigkeiten entwickeln. Plötzlich lächeln sie, nehmen Kontakt zu anderen auf, und – das Wichtigste – sie schaffen sich allmählich ein dichtes Netzwerk von Freunden. Und das ist für sie der Schlüssel zum Überleben. Mit dem kleinen Freundeskreis sind ihre Chancen deutlich besser. Nahrungsmittel werden gemeinsam gesammelt und anschließend geteilt, und wer es gerade benötigt, bekommt Schutz, Hilfe oder Trost. Diese Freundschaften halten in der Regel ein Leben lang. Und wenn jemand stirbt, trauern die Freunde oft am meisten.
So hatte ich es bei Klorus Frau erlebt. Die Person, die am meisten trauerte und die ganze Zeit, während ich dort war, ihr Gesicht mit Erde eingerieben hatte, war eine der engsten Freundinnen von Klorus Frau. Tatsächlich schienen die Söhne Tuare, Bebe und Babu-Bosa lange nicht so berührt vom Tod ihrer Mutter wie diese Frau.
Obwohl die Kinder immer noch mit ihren Familien leben, verbringen sie die meiste Zeit im Freundeskreis. Dieser ist in der Regel strikt nach Geschlechtern getrennt, Mädchen spielen mit Mädchen, Jungen mit Jungen. Sophia-Bosa hatte ebenfalls zwei Freundinnen in ihrem Alter, eine davon war das Mädchen, dessen Eltern vom Stamm der Dou getötet worden waren und das Fusai und Nakire bei sich aufgenommen hatten.
Ich konnte beobachten, dass die Kinder wie die Kletten aneinander hingen und einander beschützten, selbst vor ihren eigenen Familienmitgliedern.
Einmal ging ich mit ein paar Frauen zu einer Quelle ganz in der Nähe meines Hauses, um Wäsche zu waschen. Eine kleine Gruppe von Jungen begleitete uns, und einer von ihnen
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