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Ruf Des Dschungels

Ruf Des Dschungels

Titel: Ruf Des Dschungels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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sie vor einer Entführung zu bewahren. Die Söhne, nicht selten gerade mal fünf Jahre alt, mussten dann mit Pfeil und Bogen bewaffnet vor der Hütte Stellung beziehen. Doch meistens fand der Verehrer einen Weg, das junge Mädchen zu ergreifen und es – zur Not auch mit Gewalt – in den Dschungel zu schleppen.
    Das Erstaunliche daran war jedoch: Schaffte das Mädchen es nicht, zu fliehen, und kehrten die beiden nach drei Tagen zusammen aus dem Dschungel zurück, dann gab die gesamte Dorfgemeinschaft, sogar der Vater des Mädchens, der neuen Verbindung ohne Einschränkung ihren Segen. Das Leben ging weiter wie bisher, mit dem einzigen Unterschied, dass die junge Frau von nun an mit ihrem neuen Ehemann zusammenlebte.
    Da die Polygamie ebenfalls weit verbreitet war, herrschte bald akuter Frauenmangel, ein Problem übrigens nicht nur der Fayu, sondern auch vieler anderer Stämme der Gegend. Das hatte natürlich zur Folge, dass die Männer oftmals Frauen von anderen Stämmen oder Gruppen innerhalb desselben Stammes stahlen. Nicht selten wurde der Mann der entführten Frau getötet, was nur wieder ein neuer Anlass für einen Rachefeldzug war. Die Frauen wurden zu einem geschätzten Gut, gefangen zwischen den Fronten der sich bekriegenden Stämme.
    Über die Jahre nahmen die Kriege ab, bis schließlich Friede unter den Stämmen herrschte. Um diesen zu wahren, legten die Häuptlinge neue Regeln fest: Frauen durften von nun an nicht mehr gestohlen werden. Die älteren Männer einigten sich außerdem darauf, sich keine weiteren Nebenfrauen mehr zu nehmen und die heiratsfähigen Mädchen den jungen Männern zu überlassen.
    Es ist faszinierend, zu beobachten, welch wichtige Rolle die Frauen nun in dieser Gesellschaft spielen, die bis dahin von Männern dominiert war. Besonders klar konnte man dies erkennen, als vor ein paar Jahren ein Kampf zwischen den Männern ausbrach. Mit Pfeil und Bogen bewaffnet, stellten sie sich in zwei Reihen gegenüber, und der Kriegstanz begann. Sie tanzten im Kreis herum, sprangen von einem Fuß auf den anderen – in der einen Hand den Menschenpfeil, in der anderen den Bogen. Spannung lag in der Luft, als sie ihre Stimmen erhoben, die Luft vibrierte vor Aggressivität. Die Kinder begannen zu weinen und rannten ängstlich durcheinander. Normalerweise nehmen die Frauen in einer solchen Situation ihren Nachwuchs und suchen Schutz im Dschungel, um vor dem Gewaltausbruch zu fliehen.
    Doch dann geschah das Unerwartete. Anstatt den Schauplatz zu verlassen, bestrichen mehrere Frauen ihr Gesicht mit Erde, ein Ritus, der sonst der Trauer vorbehalten ist. Sie nahmen sich lange Stöcke und stellten sich zwischen die kämpfenden Männer. Immer und immer wieder hämmerten sie mit den Stöcken auf den trockenen Erdboden, und ein dreitoniges Klagelied erklang: »Hört auf zu töten, hört auf, euch zu bekämpfen! Wir wollen weder unsere Väter noch unsere Männer oder Söhne begraben.« Ihre Rufe vermischten sich mit dem Lärm des aufkommenden Krieges.
    Dieses erstaunliche Verhalten irritierte die Männer zutiefst, und sie verstummten einer nach dem anderen. Sie hörten auf zu tanzen, sie hörten auf zu streiten, langsam senkten sie die hoch erhobenen Pfeile, und alles kam zu einem guten Ende. Seit diesem Tag mischen sich die Frauen in die Streitigkeiten und Kriege der Männer ein.
     
    Ich habe selbst erlebt, welchen Einfluss die Frauen der Fayu heutzutage haben, als es während meines Besuchs zu einer Situation kam, die eine schmerzliche Erinnerung wieder aufleben ließ.
    Eine Weile nachdem unsere Familie damals zu den Fayu übergesiedelt war, lernte ich ein Mädchen namens Faisa kennen. Sie war etwa so alt wie ich und wurde meine erste Freundin. Eines Tages, Faisa war vor kurzem in die Pubertät gekommen, spielten wir auf der Sandbank, als wir plötzlich Schreie hörten. Ich sah Nakires taubstummen Bruder mit einem Buschmesser in der Hand auf uns zustürmen. Er wollte Faisa zur Frau haben, doch sie und ihr Vater hatten ihn abgewiesen. Nun wollte er sie mit Gewalt erobern. Faisa gelang es nur knapp, in einem Kanu zu flüchten. Aber am meisten schockierte mich damals die Reaktion der anderen Fayu. Sie standen reglos da und beobachteten die Ereignisse, die sich vor ihren Augen auf der Sandbank abspielten. Niemand rührte auch nur einen Finger, um Faisa zu helfen oder Nakires Bruder aufzuhalten.
     
    Ziemlich genau zweiundzwanzig Jahre später saß ich mit Sophia-Bosa zusammen, die nun etwa im gleichen Alter

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