Ruf Des Dschungels
begann an dem Wasserrohr aus Bambus herumzuspielen, das dazu diente, das Wasser aufzufangen, bevor es im Boden versickerte. Die Mutter des Kleinen befahl ihm, sofort damit aufzuhören. Als er nicht gehorchte, nahm sie einen Stein und warf damit nach ihm.
Ein Kampf brach aus, bei dem die Mutter weiter Steine nach ihrem Sohn warf und er sich wehrte, indem er versuchte, mit einem langen Stock zurückzuschlagen. Plötzlich warf sich ein anderer kleiner Junge zwischen die Streitenden und streckte beschützend die Arme vor seinem Freund aus. Nach wenigen Minuten beruhigte sich die Lage, und die beiden Jungen gingen davon.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland fragte ich einen Kinderpsychologen, wieso die Kinder der Fayu anfangs keinerlei Interaktion mit anderen Menschen zeigen. Seine Vermutung war, dass die Kleinen alles haben, was sie zum Überleben brauchen: Wärme, Sicherheit, Nahrung, Schutz. Sie sind auf soziale Fähigkeiten nicht angewiesen und entwickeln sie daher auch nicht. Wohingegen ein Kind, das auf sich selbst gestellt ist und sich einen ersten Freundeskreis aufbaut, sehr wohl Geschick im Umgang mit anderen braucht und dieses auch schnell erwirbt.
Natürlich bedeutet das keineswegs, dass die Fayu-Frauen ihre Kinder nicht lieben. Sie haben ihre Kleinen sogar sehr lieb, was sich allein daran zeigt, wie stolz sie mir bei meiner Ankunft jedes einzelne Kind vorstellten. Sie leben eben in einer anderen Gesellschaft. Ob sie besser oder schlechter ist als die unsere, kann ich nicht beurteilen, sie ist nur anders. Am meisten hat mich jedoch wieder einmal beeindruckt, mit welchem Engagement und welcher Aufrichtigkeit Freundschaften gepflegt werden. Das Netzwerk an Freunden ist in jeder Hinsicht genauso wichtig wie die eigene Familie.
Allerdings bemerkte ich hier nach einigen Tagen, dass auch in Bezug auf kleine Kinder eine Veränderung im Gange war; warum, weiß ich nicht. Bei meinem Willkommensfest ging ich umher und fotografierte die Kinder. Ich wollte auch einige der Kleinsten in den Armen ihrer Mütter ablichten, doch sobald ich mich ihnen näherte, fingen sie an zu weinen oder drehten sich weg. Da traf eine Familie mit zwei Kindern ein, einem Jungen von fünf oder sechs und einem kleinen Mädchen im Alter von etwa einem Jahr. Die Mutter hielt ihre Kleine auf dem Arm, als ich auf sie zuging. Ich hob die Kamera vors Auge, und zu meinem grenzenlosen Erstaunen schenkte mir das Mädchen ein strahlendes Lächeln. Was für ein bewegender Moment!
Das einzige Mädchen, das lächelte
Bald fiel mir auf, dass auch der Junge anders war als die anderen Kinder. Er lächelte die ganze Zeit und schien eine enge Beziehung zu seiner Mutter zu haben, obwohl es inzwischen eine jüngere Schwester gab. Leider hatte ich keine Gelegenheit, sie genauer zu beobachten, da die Familie schon am Tag nach dem Fest wieder aufbrach. Doch das Foto des kleinen Mädchens mit dem strahlenden Lächeln steht jetzt auf meinem Schreibtisch.
Eine Gesellschaft verändert sich, so wie sich die Zeiten ändern. Wenn sie sich nicht weiterentwickelt, entwickelt sie sich rückwärts. In der Vergangenheit war das Leben der Fayu von Stammeskriegen beherrscht. Kaum aber war das Kriegsbeil begraben, machten sich die ersten Veränderungen bemerkbar. Die Männer und Frauen heirateten auch über die Grenzen ihrer eigenen kleinen Clans hinaus, und die einst so strikt getrennten vier Fayu-Stämme, die verfeindet gewesen waren, entwickelten sich zu einer großen Gemeinschaft. Heute sind die Stammesgebiete noch immer getrennt, und die Menschen tragen nach wie vor ihren Clan-Namen. Doch dieser wird immer mehr zu einer Art Familienname. Tuare hieße demnach Tuare Iyarike.
Wohin diese Veränderungen eines Tages führen und wie sie diese einzigartige Gesellschaft prägen werden, wird die Zeit zeigen. Doch nach allem, was ich gesehen habe, sind die Neuerungen größtenteils positiv, bewirkt durch eine ganz natürliche Anpassung an veränderte Verhältnisse und durch den Willen zu überleben.
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15 Die zweite Rückkehr nach Papua
E s ist spät am Nachmittag, als wir mit dem Anflug auf Jayapura, West-Papua, beginnen. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster: Was für eine traumhafte Aussicht! Die geschwungenen Hügel, das glitzernde Meer und die untergehende Sonne ergeben zusammen ein Bild von fast irrealer Schönheit, mehr ein Gemälde als Wirklichkeit.
»Ist das nicht herrlich?«, sage ich zu Jon, der neben mir sitzt.
Er nickt wortlos, und plötzlich wird mir
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