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Ruf Des Dschungels

Ruf Des Dschungels

Titel: Ruf Des Dschungels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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ich verloren.
    Da ich nichts anderes kannte, verhielt ich mich weiterhin wie in einem Hafen. Ich nahm mir Dinge, ohne vorher zu fragen, schließlich wird in einem Familienhafen alles geteilt. Ich vertraute leichthin anderen Menschen, und die Tür zu meinem Zuhause stand jederzeit all jenen offen, die ich meine Freunde nannte.
    Aber die Reaktionen der anderen auf mein offenherziges Verhalten verwirrten mich. Niemand hatte mir erklärt oder beigebracht, wie ich mich und meine Gefühle schützen und mich zur Wehr setzen konnte.
    Im sicheren Hafen ist niemand allein, und alle Lasten, egal, ob mentaler, körperlicher oder finanzieller Art, werden auf mehrere Schultern verteilt. So war es mir völlig fremd, mich allein durchs Leben schlagen zu müssen. Irgendwann verstand ich die Welt nicht mehr, und Panik überkam mich, wenn ich in unbekannte Situationen geriet. Denn ich wusste nicht mehr, an wen ich mich anlehnen, wen ich um Rat fragen konnte.
    Wieder zurück in solch einer familiären Gemeinschaft, gehen mir nun plötzlich die Augen auf, und zum ersten Mal erklären sich mir die Ängste, mit denen ich all die Jahre gekämpft habe.
    Mama ist ein wunderbares Beispiel für einen Hafen. Sie hat ihr Leben lang gearbeitet und nichts gespart, sondern immer alles ihren Kindern und engen Freunden gegeben. Sie hat ihnen geholfen, ihnen eine Ausbildung ermöglicht, hat sie ernährt. Dafür braucht sie sich auch keine Sorgen um ihre Zukunft zu machen, denn sie kann sicher sein, dass jemand sie tragen wird, wenn sie nicht mehr laufen kann, dass jemand sie füttern wird, wenn sie nicht mehr allein essen kann, dass jemand für sie da sein wird, wenn sie sich nicht mehr allein waschen oder anziehen kann. Sie wird alles zurückbekommen, was sie im Laufe ihres Lebens gegeben hat. Ihre Kinder und Freunde werden für sie sorgen, und ihre Enkel, genau wie die Enkel ihrer Freunde, werden sie lieben und achten. Und wenn sie einmal stirbt, werden viele herbeikommen, um sich an sie zu erinnern, um ihr die letzte Ehre zu erweisen und zu trauern, denn der Tod eines Menschen bedeutet für den Hafen jedes Mal einen großen Verlust.
    Das Leben im Hafen hat eine feste Struktur, in der jeder Einzelne seinen Platz hat. Das klingt im ersten Moment vielleicht paradiesisch, aber genau so, wie man dort alles bekommt, muss man auch alles geben. Sonst würde das System zusammenbrechen.
    Wenn also mein Freund fragt, ob er sich mal mein Auto ausleihen darf, sage ich ja, wenn mein Cousin Geld braucht, gebe ich ihm welches, wenn ich meinen ersten Job antrete, überlasse ich einen Teil meines Gehalts meinen Eltern, falls sie es brauchen. Die Türen meines Hauses stehen immer offen, Gäste sind jederzeit willkommen, Essen wird ebenso bereitwillig geteilt wie Informationen und Wissen.
    In gewisser Weise ist man in diesem System nicht Herr über sein eigenes Leben, weil der sichere Hafen über das Dasein aller bestimmt. Natürlich kann der Einzelne seine persönlichen Entscheidungen treffen, und es steht jedem frei, seinen Weg zu gehen, wenn er das möchte. Doch wer will schon eine Gemeinschaft verlassen, die ein Leben lang Schutz und Sicherheit bietet? Zumal das Leben da draußen geradezu furchteinflößend ist, wenn man nichts anderes kennt als seinen Hafen.
    Ich will diese Kultur und diese Art zu leben gar nicht idealisieren. Es gibt viele Aspekte, mit denen nur schwer umzugehen ist, vor allem wenn man nicht damit aufgewachsen ist. Eine der größten Schwierigkeiten ist sicher der Mangel an Privatsphäre, die man in der Kultur des sicheren Hafens einfach nicht kennt. Jemand, der Wert auf seine persönliche Freiheit legt, wird sich nur schwer an dieses Leben gewöhnen können.
    Da ich in einer solchen Gemeinschaft aufgewachsen bin, stört es mich jedoch nicht weiter, wenn ich keine Privatsphäre habe, solange ich von meinem Netzwerk umgeben bin. Denn es hält meine Feinde von mir fern, nimmt mir die Angst vor der Zukunft, und ich werde so akzeptiert, wie ich bin. Dieses Geben und Nehmen, dieser Kreislauf ohne Anfang und Ende schafft eine Art von Sicherheit, die keine Regierung oder sonstige Institution von außen ersetzen kann.
    Natürlich gibt es, wie überall im Leben, bestimmte Häfen, die besser sind als andere. Manche funktionieren auch so gut wie gar nicht. Doch im Allgemeinen klappt es, und vor allem der Hafen, in dem ich gerade bin, scheint mir überaus stark und gefestigt. Die sicheren Häfen haben es dieser Gesellschaft mit ihrer Vielfalt an Stämmen

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