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Ruf Des Dschungels

Ruf Des Dschungels

Titel: Ruf Des Dschungels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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in den letzten Tagen vor Angst und Anspannung kaum abschalten können.
    Ich gehe früh ins Bett, und zum ersten Mal seit Wochen komme ich innerlich zur Ruhe, im Einklang mit mir selbst und der Welt um mich herum.
     
    Am nächsten Morgen scheint die Sonne durchs Fenster, und ich bleibe noch ein paar Minuten liegen, um die Wärme und die frische Morgenluft in mich aufzunehmen. Jon scheint noch zu schlafen, daher mache ich mich schließlich allein auf die Suche nach einer Tasse Kaffee. Im Esszimmer sitzt Mama schon und fragt mich mit einem herzlichen Lächeln, was ich zum Frühstück möchte.
    »Nur einen Kaffee, danke«, erwidere ich.
    Enttäuscht mustert sie mich. »Du bist viel zu dünn, mein Kind, du musst dringend mehr essen.«
    »Nein, danke, eine Tasse Kaffee reicht mir. Wirklich«, versichere ich.
    Dieses Spiel wird sich von nun an jeden Morgen wie ein Ritual wiederholen, Tag für Tag möchte ich nur eine Tasse Kaffee, und jedes Mal werde ich ausgeschimpft, ich sei viel zu dünn. Danach sitzen wir zusammen und unterhalten uns. Ich spüre, wie allmählich ein freundschaftliches Band zwischen uns wächst, und verliere mich von neuem in einer Welt, die mir so nahe ist. Wärme, Vertrautheit und Zugehörigkeit – all dies verleiht mir ein Gefühl von Sicherheit, das ich jahrelang vermisst habe.
    Wenige Tage später fragt Mama mich, ob ich mit ihr aufs Land fahren und ihre Tochter besuchen möchte. Es klingt nach einer schönen Gelegenheit, mir Teile der Insel anzusehen, die ich bisher nicht kenne. Also sage ich zu. Ich habe in West-Papua all die Jahre immer nur im Dschungel, in Danau Bira oder in der Hauptstadt selbst gelebt. In die Umgebung der Stadt bin ich nie gekommen.
    Eine Stunde später fahren Mama, ein Bekannter von ihr und ich mit dem Auto los. Unterwegs halten wir bei einem Laden, wo Mama Öl und einen Sack Reis für ihre Tochter kauft, denn auf dem Land gibt es keine Geschäfte. Schließlich verlassen wir die Hauptstraße und biegen auf eine enge, kurvenreiche Straße ab. Es gibt hier kaum noch Autos, und die Landschaft ist überwältigend. Wir fahren einen Hügel hinauf, und von dort oben kann ich das Meer sehen, das sich wie ein unendlicher tiefblauer Teppich vor uns ausbreitet. Am Straßenrand wachsen tropische Pflanzen und Blumen, dazwischen Bananenstauden, Kokospalmen, Mango- und viele andere Bäume.
    Ich sitze da und lasse all die Schönheit vorbeiziehen, verliere mich im Dröhnen des Motors und in der Bewegung des Wagens auf der schmalen Straße. Dabei landen meine Gedanken erneut bei der Frage, warum ich mich hier eigentlich so sicher fühle. Jon war vorhin richtig wütend und hat mir vorgeworfen, ich sähe der Realität nicht ins Auge, denn wir seien hier alles andere als sicher. Und tatsächlich sind wir in jeder Minute, die wir in diesem Land verbringen, in Gefahr, ich weiß das. Doch woher kommt dann dieses untrügliche Gefühl der Geborgenheit? Wodurch wird es ausgelöst? Was ist der Grund dafür, dass ich mich hier sicherer fühle als in Europa?
    Ich beobachte Mama, die vorne sitzt und aus dem Fenster schaut. Die Falten in ihrem Gesicht zeugen von ihrem harten Leben, und dennoch liegen darin sanfte Heiterkeit und Frieden. Ich erinnere mich, wie sie mich begrüßt hat, wie sie mich in ihrem Haus willkommen geheißen und fast wie eine Tochter behandelt hat. Theoretisch bin ich ja eine Fremde für sie, ich habe noch nicht mal dieselbe Nationalität. Und dennoch hat sie mich innerhalb kürzester Zeit in ihr Heim und in ihr Herz gelassen.
    Doch nicht nur Mama, sondern ihre ganze Familie, von der einige mich noch aus der Kindheit kennen, hat mich herzlich aufgenommen. Die Papua haben große Familien, zu denen oft auch entfernte Verwandte und Freunde gehören. Sie helfen einander, eröffnen gemeinsam Geschäfte, feiern Hochzeiten und Geburtstage und betrauern zusammen jene, die von ihnen gegangen sind.
    So entsteht eine eng verbundene Gemeinschaft. Die Jungen kümmern sich um die Alten, die Alten wiederum beraten und belehren die Jungen. Das Leben ist für die Papua nicht einfach, aber dank des Netzwerks aus Familie und Freunden schaffen sie sich einen sicheren Hafen, wie ich es immer nenne, einen Hafen, der sie beschützt und für sie Sorge trägt.
    Allmählich wird mir klar, dass mein trügerisches Gefühl von Sicherheit nicht von dem Land selbst herrührt, sondern von genau diesen Familienhäfen. Ich bin inmitten einer solchen Struktur aufgewachsen, und als ich nach Europa zurückkehrte, war

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